[155] 35. Das Ei der weißen Seeschwalbe

Die Palauer wissen was schön schmeckt; es sind arge Feinschmecker, und so lieben sie auch den Genuß der Eier von der weißen Seeschwalbe. Der Vogel legt sie in schwer zugängliche Schlupfwinkel, und es kommt daher nur selten vor, daß einmal ein Eingeborener ein solches Ei findet.

Die Rubaks (Häuptlinge) von a Juang in Goikul pflegten gelegentlich in ihre alte Heimat auf Ngurukdapel zu fahren, um dort an einem steilen Felsabsturz, dem marak ra Ngalals, Eier zu sammeln. Eines Tages waren sie wieder ausgezogen und entdeckten unten an einer Wand das Nest einer weißen Seeschwalbe, in dem eins der begehrten seltenen Eier lag. Da sie kein Seil hatten, um sich hinunterzulassen, war guter Rat teuer. Denn die Wand war steil, und wer dort abstürzte, fiel ins tiefe Wasser, wo sich die Haifische tummelten. Schließlich beschlossen sie eine Kette zu machen; einer sollte dem andern die Hand reichen; der zu oberst sollte sich an einem Baum festhalten, der zu unterst das Ei heraufholen. Und so geschah es auch.

Rengul, der im Range der dritte Häuptling war, hielt sich am Baum fest und forderte die übrigen auf, einer nach dem andern hinabzusteigen. Er war ein schlauer Geselle, denn als der rangälteste Rubak Rengais unten angekommen war, dachte Rengul, jetzt ist Gelegenheit, vorwärts zu kommen. [155] So rief er dem Rengais zu: »Ich lasse jetzt los, wenn du mir nicht etwas Gutes sagst!« Der bekam es mit der Angst und antwortete: »Bitte, lasse nur nicht los, ich will dir das Ei schenken und du sollst der erste sein vor mir.« Rengul war damit einverstanden und Rengais brachte das Ei herauf.

Da zeigte es sich, daß es gar kein wirkliches Ei, sondern ein wertvolles Geldstück war, das fortan Ngisasogosog genannt wurde. Niemand weiß, wohin es gekommen ist. Rengais trat aber von der ersten Rubak-Stelle zurück und wurde hinter Rengul zum vierten Häuptling. Und so ist es bis heute geblieben, und der Rengul erhält noch jetzt bei Essens- und Geldverteilungen das beste Stück.

Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 155-156.
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