Erstes Märchen

[220] Es war einmal ein Mädchen, dessen Mutter hieß Egigu, und der Vater hieß Gadia. Es hatte noch zwei Schwestern, die wurden wie sie selber nach der Mutter Egigu genannt.

Eines Tages spielten alle drei um einen großen hohen Baum, als die Älteste zum ersten Male unwohl wurde. Sie stieg auf den Baum hinauf und sang:


»Egigu! Egigu, oho!

O nein, ich bin unwohl!

Geht zum Bater Gadia,

Schmuck soll er euch geben oho!

Und Muschelketten und den Gürtel oho!«


Als der Vater die Kunde erfuhr, ließ er ihr sagen, sie solle ins Frauenhaus gehen; er wolle ihr dann schönes Essen und herrlichen Zierat senden. Und die Älteste tat, was der Vater befohlen hatte.

Am andern Tag geschah dasselbe mit der zweiten Tochter; auch sie stieg auf den Baum und sang das gleiche Lied, das die ältere Schwester gesungen hatte. Sie erhielt ebenfalls ein schönes Haus und viele Geschenke.

Am dritten Tag wurde die Jüngste unwohl. Sie stieg auf den Baum und sang das nämliche Lied. Doch da antwortete die Mutter: »Dir wird der Vater kein Haus schenken, wir mögen dich nicht leiden. Geh nur wohin du willst, in den Busch oder an die See.«

Das Mädchen ging traurig fort; es ging an den Strand und fand dort eine keimende Nuß. Sie pflanzte den Keimling tiefer in den Boden ein, begoß ihn und sprach: »Wachse, Bäumlein, wachse! Du sollst nicht im Sonnenbrand oder im Sturmwind vergehen. Wachse, wachse ein wenig!« Da wuchs der Keimling rasch zum Baum heran, und der [220] Baum wuchs höher und höher, bis er schließlich an den Himmel stieß.

Als das Mädchen dies sah, kletterte es in den Baum hinein und stieg höher und immer höher, bis es endlich in den Himmel kam. Dort schlenderte es umher und gelangte zu einer alten Frau, welche Enibarara hieß. Die Alte war blind; sie war gerade damit beschäftigt, im Kochhause Palmwein zu Sirup einzukochen. Egigu war sehr durstig. Sie nahm eine Schale Palmwein fort, trank sie aus und setzte sie wieder an den Platz zurück. Dreißig Schalen waren es. Zunächst merkte die alte Frau nicht, daß die Schalen fortgenommen wurden, als aber das Mädchen die letzte Schale austrinken wollte und schon zugriff, da wurde es von der Alten ertappt. Sie faßte es bei der Hand und hielt es fest.

»O,« rief Egigu, »laß mich in Frieden; ich will brav sein, will dir helfen und dir dienen.«

Doch die Alte antwortete: »O nein, ich lasse dich nicht gehen, du hast mir meinen Wein ausgetrunken, und dafür mußt du jetzt sterben.«

»Ach nein, laß mich los, ich will dir auch deine Augen wieder gesund machen!«

»Nun, wenn du das kannst, und tust, will ich zufrieden sein und dich freigeben.«

Da sprach Egigu: »Puh, puh! Deine Augen, Enibarara! Puh, puh!« Und allerlei flog aus den Augen der Alten heraus: Ameisen, Fliegen, Würmer usw., alles mögliche Getier. Die Augen wurden klar, und die alte Frau konnte wieder sehen. Sie freute sich und wartete nun auf die Rückkehr ihrer drei Söhne. Und weil sie fürchtete, daß sie dem Mädchen ein Leid antun würden, denn sie waren Menschenfresser, versteckte sie Egigu unter einer großen Muschelschale.

Bald danach kamen die Söhne nach Haus. Zuerst erschien Ekuan, die Sonne. Er schnupperte umher und sagte: »Mutter, es riecht so, als ob hier noch jemand ist.« Die Alte antwortete nicht; sie öffnete auch nicht die Augen, denn ihr [221] Sohn sollte nicht merken, daß sie wieder sehen konnte. Ekuan ging fort und es erschien der zweite Sohn, Tebau, der Donner. Er schnupperte wie sein Bruder umher und sagte: »Mutter, es riecht hier nach Menschen.« Enibarara antwortete wieder nicht; sie öffnete auch die Augen nicht; sie wollte nichts hören. Tebau ging weiter; und nun kam der dritte Sohn, der milde, freundliche Maramen, der Mond. »O, Mutter,« rief er, »es riecht so, als ob hier noch jemand ist.« Da öffnete die Alte die Augen und sagte: »Komm, schau her, sieh mir in die Augen.« Maramen ging zur Mutter, blickte ihr in die Augen, wunderte sich und sprach: »O, wer hat das gemacht? Seit wann kannst du wieder sehen?«

Da erzählte Enibarara ihrem Sohne die Geschichte. Maramen freute sich sehr und fragte, wo das Mädchen sei. Die Alte antwortete: »Dort unter der Tridacna-Schale sitzt das Mädchen Egigu; die tat es, und nun sollst du sie zur Frau haben!«

Jetzt war Maramens Freude noch größer. Er machte Egigu zu seiner Frau. Und heute noch kann jeder das Mädchen im Monde sehen.

Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 220-222.
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