[333] 73. Hine-moa und Tutanekai

Herr, schaut Euch um und hört mir zu, hier gibt es etwas zu sehen; du sitzst gerade an der Stelle, wo unsere große Ahnfrau Hine-moa saß, als sie vom Festlande hier herüberschwamm. Doch ich will Euch die ganze Geschichte erzählen.

Seht, Rangi-uru war die Mutter eines Häuptlings, der Tutanekai hieß; eigentlich war sie die Frau von Whakaue-kaipapa, dem Ahnherrn des Ngati-whakaue-Stammes; doch eines Tages lief sie ihm fort, und Tuwharetoa, der Ahnherr des Te Heukeu- und Ngati-tuwharetoa-Stammes begleitete sie. Mit Whakaue hatte sie drei Söhne gehabt, die hießen Tawakeheimoa, Ngararanui und Tuteaiti. Und nach der Geburt dieses dritten Kindes lief Rangi-uru mit Tuwharetoa fort, der als Fremder zum Besuch nach Rotorua gekommen war. Aus ihrer Verbindung wurde Tutanekai als uneheliches Kind geboren; doch schließlich söhnten sich Whakaue und Rangi-uru wieder aus, sie lebten zusammen und bekamen noch einen Sohn, den sie Kopako nannten; danach wurde ihnen noch eine Tochter geboren, welche den Namen Tupa erhielt; sie war das letzte Kind von Whakaue.

Sie lebten alle zusammen hier auf der Insel Mokoia. Whakaue war sehr freundlich mit Tutanekai und behandelte ihn, als ob er sein eigener Sohn wäre; und Tutanekai wuchs mit seinen Brüdern auf, und sie wurden Jünglinge und wurden Männer.

Da hörten sie auch von Hine-moa, einem Mädchen von seltener Schönheit. Sie hatte einen hohen Rang. Sie war die Tochter von Umukaria, dem Ahnherrn des Ngati Unui-kara-hapu-Stammes; [333] ihre Mutter hieß Hine-maru. Als soviel von ihrer Vornehmheit und Schönheit geredet wurde, da begehrten Tutanekai und seine Brüder sie sehnlichst zur Frau.

Und Tutanekai baute jetzt dort drüben am Abhang des Hügels einen hohen Turm und nannte ihn Kaiweka. Er schloß auch eine innige Freundschaft mit einem Jüngling namens Tiki. Beide liebten sie die Musik. Tutanekai blies das Horn und Tiki die Flöte; abends stiegen sie gern zum Turm hinauf und spielten; und an ruhigen Abenden wurden ihre Weisen von dem leichten Landwinde über den See nach Owhata hinübergetragen, wo die schöne Hine-moa wohnte, die jüngere Schwester des Wahiao.

Dann hörte Hine-moa die lieblichen Töne aus den Instrumenten des Tutanekai und seines lieben Freundes Tiki; und sie erfreuten ihr Herz mächtig. Und jeden Abend, wenn die beiden Freunde so zusammen spielten, sagte Hine-moa zu sich: »Ah! jetzt spielt Tutanekai!«

Denn obgleich Hine-moa von den Ihrigen so hochgeschätzt wurde, daß man sie an keinen Häuptling verloben wollte, war sie doch dem Tutanekai bei verschiedenen Zusammenkünften der Leute von Rotorua begegnet.

Bei diesen großen Versammlungen hatte Hine-moa den Tutanekai gesehen; sie hatten sich einander oftmals angeblickt, und einer erschien dem andern so herzlich zugetan und liebenswert, daß sie heimlich gegenseitig in Leidenschaft füreinander entbrannten. Trotzdem wagte Tutanekai nicht, sich Hine-moa zu nahen, ihr die Hand zu geben und nun zu warten, ob er wohl einen Gegendruck spüren würde, denn er sagte sich: »Vielleicht mag sie mich gar nicht leiden«; und wiederum dachte Hine-moa so bei sich: »Wenn ich nun eine Freundin zu ihm schicke, die ihm von meiner Liebe erzählt, sollte er dann wohl Gefallen an mir finden?«

Nachdem sie sich so viele, viele Male getroffen und einander herzlich in die Augen geblickt hatten, sandte Tutanekai eines Tages einen Boten zu Hine-moa, der sollte ihr seine Liebe [334] gestehen; und als der Bote wieder weg war, sagte Hine-moa: »Ehu! da haben wir also die gleichen Liebesgedanken gehabt!«

Einige Zeit später – sie hatten sich oftmals und heimlich getroffen – kehrte Tutanekai mit den Seinen ins eigene Dorf zurück; und als man eines Abends gemütlich im geräumigen, großen, allgemeinen Versammlungshaus beieinandersaß, sagten die älteren Brüder von Tutanekai: »Wer von uns hat durch Zeichen oder einen Händedruck Beweise erhalten, daß Hine-moa ihn lieb hat?« Der eine sprach: »Ich habe sie!« und ein anderer erwiderte: »Nein, ich habe sie!« Schließlich fragten sie auch den Tutanekai, und er antwortete: »Ich habe Hine-moa die Hand gedrückt, und sie hat sie mir wieder gedrückt.« Doch seine älteren Brüder sagten: »Unsinn! glaubst du wirklich, sie wird sich ernstlich um einen Gesellen von so niederer Abkunft wie dich bekümmern?« Doch er bat seinen Vater Whakaue, nicht zu vergessen, was er ihm jetzt erzählen würde, denn er hätte wirklich eindeutige Beweise für die Liebe von Hine-moa; sie hätten schon seit einiger Zeit alles genau besprochen, wie Hine-moa zu ihm entlaufen sollte; als das Mädchen gefragte hätte: »Auf welches Zeichen hin soll ich denn zu dir kommen?«, hätte er geantwortet: »Jeden Abend wirst du ein Horn ertönen hören; ich werde es blasen, Liebling – und dann fahr mit deinem Boot nach der Stelle.« Und Whakaue behielt das Geständnis bei sich, was Tutanekai ihm gemacht hatte.

So zogen jedesmal gegen Mitternacht Tutanekai und sein Freund Tiki auf ihren Turm und bliesen, der eine das Horn, der andere die Flöte; und Hine-moa hörte sie und bekam große Sehnsucht, nun im Boote zu Tutanekai hinüberzufahren; doch ihre Freunde mußten irgendwie Verdacht geschöpft haben, sie hatten sorgfältig alle Boote versteckt; keins war im Wasser geblieben; sie waren alle am Strande hinaufgeholt; das taten ihre Freunde jeden Tag und jede Nacht von neuem.

[335] Schließlich ging sie sehr ernsthaft mit sich zu Rate und sagte: »Wie soll es mir bloß gelingen, über den See zur Insel Mokoia hinüberzukommen? Es ist ja klar, meine Freunde ahnen, was ich tun will.« Sie setzte sich hin, um sich auszuruhen; da klangen von weitem sanfte Töne aus Tutanekais Horn an ihr Ohr; und die junge und schöne Häuptlingstochter hatte ein Gefühl, als ob ein Erdbeben sie durchzitterte; sie mußte zum Herzallerliebsten gehen; doch nun fiel ihr wieder ein, daß ja kein Boot da war. Schließlich kam ihr der Gedanke, daß sie vielleicht hinüberschwimmen könnte. Sie verschaffte sich sechs große leere Kürbisflaschen; drei band sie sich davon als Schwimmer an jede Seite, damit sie nicht untersänke; dann stieg sie auf den Iri-iri-kapua-Fels und ging zum See bis an die äußerste Spitze Wai-rere-wai; hier warf sie die Kleider ab und sprang ins Wasser; als sie zu dem versunkenen Baum kam, der dort lag, hielt sie sich an ihm fest und schöpfte Atem; als die Müdigkeit ihrer Schultern vorüber war, schwamm sie weiter, und wenn sie müde wurde, trieb sie mit der Strömung im See; die Kürbisflaschen trugen sie; hatte sie dann wieder neue Kräfte, so schwamm sie weiter; doch in der Dunkelheit der Nacht konnte sie nicht sehen, in welche Richtung sie schwimmen mußte; die sanften Weisen von Tutanekais Horn waren ihre einzigen Führer; die gaben das Ziel an, nach dem sie geradeswegs nach Waikimihia hinüberschwamm; denn gerade oberhalb dieser heißen Quelle lag das Dorf des Tutanekai; und so erreichte sie schwimmend schließlich die Insel Mokoia.

Wo sie auf der Insel landete, befindet sich eine heiße Quelle, die nur durch eine schmale Felsschranke vom See selbst getrennt ist; die heißt, wie ich schon sagte, Waikimihia. Hinemoa begab sich sogleich in den warmen Quell, um sich zu wärmen; sie zitterte am ganzen Körper, einmal infolge der Kälte während des nächtlichen Schwimmens über den breiten See von Rotorua, dann auch wohl bei dem Gedanken, daß sie nun bald bei Tutanekai sein würde.

[336] Während das Mädchen sich im heißen Quell wärmte, wollte es der Zufall, daß Tutanekai Durst bekam und zu einem Diener sagte: »Hole mir etwas Wasser.« Da ging der Diener hin, um das Wasser für ihn zu holen; nahe der Stelle, wo Hine-moa saß, schöpfte er es aus dem See in eine Kalebasse. Das Mädchen erschrak und barsch, mit einer Stimme wie ein Mann, rief es ihn an: »Für wen ist das Wasser?« Er antwortete: »Für Tutanekai.« »Nun, dann gib her,« sagte Hine-moa. Er gab ihr das Wasser, und sie trank es aus; und als sie fertig war, ließ sie die Kalebasse absichtlich hinfallen und zerbrach sie. Da fragte sie der Diener: »O, warum hast du die Kalebasse von Tutanekai zerbrochen?« Doch Hine-moa antwortete nicht. Nun ging der Diener wieder nach Haus; und Tutanekai sagte zu ihm: »Wo hast du das Wasser, das du bringen solltest?« Er antwortete: »Deine Kalebasse ist entzwei.« Sein Herr fragte ihn: »Wer hat sie zerbrochen?« Er erwiderte: »Ein Mann, der dort im Bade sitzt.« Und Tutanekai sagte wieder zu ihm: »Geh zurück und hole mir etwas Wasser.«

So nahm er eine neue Kalebasse, ging zurück und schöpfte neues Wasser; und Hine-moa fragte ihn wieder: »Für wen ist das Wasser?« Der Diener antwortete wie vordem: »Für Tutanekai.« Und das Mädchen sagte wieder: »Gib es mir, ich bin durstig.« Der Diener gab es ihr; sie trank und warf die Kalebasse wieder absichtlich hin, so daß sie entzweibrach. Dieser Vorfall wiederholte sich noch mehrmals zwischen den beiden.

Schließlich ging der Diener wieder zu Tutanekai; der sagte zu ihm: »Wo ist das Wasser für mich?« Und der Diener antwortete: »Das ist alles ausgeflossen. Deine Kalebassen sind alle entzwei.« »Wer tat es?« fragte sein Herr. »Habe ich dir nicht erzählt, daß da ein Mann im Bade sitzt?« erwiderte der Diener. »Wer ist der Bursche?« sagte Tutanekai. »Das weiß ich doch nicht,« antwortete der Gefragte, »nun, es wird wohl ein Fremder sein.« »Wußte er nicht, daß dies Wasser für mich bestimmt war?« sagte Tutanekai.[337] »Wie darf der Kerl es nur wagen, mir meine Kalebassen entzweizuschlagen? Nun, ich werde ihn dafür totschlagen.«

Dann warf Tutanekai einige Kleider über, nahm seine Keule, ging fort, und als er an das Bad kam, da rief er: »Wo steckt der Kerl, der mir meine Kalebassen zerschlug?« Hine-moa erkannte die Stimme; es war ja die Stimme ihres Herzallerliebsten; und sie verbarg sich unter den überhängenden Felsen an der heißen Quelle; doch das war kein rechtes Verbergen; sie versteckte sich nur ein wenig vor Tutanekai, damit er sie nicht sogleich fände; er sollte sie erst mal gehörig suchen. Er fühlte auf dem Strande der heißen Quelle nach und suchte überall; doch sie lag scheu hinter den Felsblöcken verborgen; dann und wann schaute sie hervor und wartete, daß er sie bald finden möchte. Endlich bekam er eine Hand zu fassen und rief: »Hallo! wer ist da?« und Hine-moa antwortete: »Ich bin es, Tutanekai.« Und er sagte: »Aber wer bist du? wer ist Ich?« Dann sprach sie lauter: »Ich bin es! Ich, Hine-moa!« Er antwortete: »Ho, ho, ho! ist das wirklich wahr? Dann wollen wir beide nach Hause gehen.« Sie erwiderte nur: »Ja,« und wundervoll wie der wilde weiße Habicht erhob sie sich aus dem Wasser, und anmutig wie der scheue weiße Kranich schritt sie dem Badestrande zu; er hüllte sie in Kleider; dann gingen sie in sein Haus und legten sich zur Ruhe nieder; und so wurden sie, gemäß der alten Satzungen der Maori, Mann und Frau.

Als der Morgen heraufdämmerte, kamen alle Leute aus den Hütten heraus, bereiteten ihr Morgenessen und verzehrten es; nur Tutanekai verweilte noch in seinem Hause. Da sagte Whakaue: »Das ist der erste Morgen, daß Tutanekai solange schläft; vielleicht ist der Junge krank. Holt ihn her – weckt ihn auf.« Ein Mann ging fort; er öffnete das Schiebefenster am Hause und schaute hinein; vier Füße sah er da. O! er war höchst verwundert und sagte sich: »Wer mag denn bloß sein Gefährte sein?« Er hatte jedoch genug[338] gesehen; er wandte sich um und so schnell, wie die Füße ihn tragen konnten, lief er zu Whakaue zurück und sagte: »Hört! vier Füße sind da im Hause. Ich habe sie selbst gesehen.« Whakaue antwortete: »Wer mag denn sein Gefährte sein? Eile zurück und sieh nach!« Da lief er wieder nach dem Hause zurück und schaute nochmal hinein – und da sah er zum ersten Male, daß es Hine-moa war. Nun brüllte er in seinem Erstaunen los: »O! Hine-moa ist hier! Hine-moa ist hier im Hause bei Tutanekai!« Als seine älteren Brüder die Rufe vernahmen, sagten sie: »Das ist nicht wahr,« denn sie waren ja sehr eifersüchtig. Und dann trat Tutanekai aus dem Hause heraus, und Hine-moa folgte ihm. Da sahen die älteren Brüder, daß es wirklich Hine-moa war; und sie sagten: »Ja, nun ist es wirklich wahr.«

Danach dachte Tiki so bei sich: »Tutanekai hat seine geliebte Hine-moa geheiratet; aber ich, ach, ich habe keine Frau.« Er war sehr traurig gestimmt und kehrte in sein Dorf zurück. Tiki tat dem Tutanekai leid, und eines Tages sagte er zu Whakaue: »Der Kummer um meinen Freund Tiki geht mir herzlich nahe.« Und Whakaue sprach: »Was meinst du?« Tutanekai erwiderte: »Ich denke an meine Schwester Tupa; gib sie meinem lieben Freund doch zur Frau.« Vater Whakaue sagte ja; und so erhielt Tiki die junge Tupa; und sie wurde seine Frau.

Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 333-339.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wilbrandt, Adolf von

Gracchus der Volkstribun. Trauerspiel in fünf Aufzügen

Gracchus der Volkstribun. Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die Geschichte des Gaius Sempronius Gracchus, der 123 v. Chr. Volkstribun wurde.

62 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon