Die geraubten Kinder.

[127] Auf einem einsamen Schloße wohnte ein reicher Herr mit seiner Frau. Sie hatten zwei Kinder, die noch nicht laufen konnten. Einmal zur Erntezeit, als die Eltern abwesend und die andern Schloßbewohner auf dem Felde waren, hörte die Kindsfrau eine wunderschöne Musik im Hofe. Sie wurde neugierig, legte die Kinder auf den Tisch und lief in den Hof, um zu sehen, was dort vorginge. In demselben Augenblicke öffnete sich das Fenster und zwei wilde Weiber flogen in das Zimmer. Jede derselben packte ein Kind und flog wieder hinaus und in demselben Augenblicke verstummte auch die Musik im Hofe. Als die Wärterin die Kinder nicht mehr im Zimmer fand und das offene Fenster bemerkte, wußte sie alsbald, daß sie von den wilden Weibern geraubt worden seien und lief voller Verzweiflung aus dem Schloße. Hier begegnete sie dem übrigen Gesinde, welches ein wüthender Sturm vom Felde gejagt hatte. Die wilden Weiber hatten nämlich in der Luft ihre Tänze ausgeführt, weil sie darüber erfreut waren, zwei hübsche Kinder zu besitzen. Als die Kindsfrau ihnen erzählte, was geschehen[127] sei, erschracken alle so, daß sie sich aus Furcht vor der Herrschaft in alle vier Winde zerstreuten. Die Wärterin verdingte sich bei einem Hirten in einer entfernten Gegend; die Eltern aber, als sie bei ihrer Heimkehr das Schloß leer fanden, starben bald vor Gram und Kummer. Mittlerweile brachten die Kinder ihr Leben in der finstern Höhle zu, welche die wilden Weiber bewohnten. Verließen die wilden Weiber ihre unterirdische Höhle, so blieb bei den Kindern ein altes blindes Weib zurück, das war die Mutter der wilden Weiber. Als die Kinder sieben Jahre alt geworden waren, wurde gerade an einem Tage, wo die wilden Weiber Brot bucken, eine Treibjagd in dem Walde abgehalten. Der Geruch des Brodes drang durch das Erdreich und die Jäger, dadurch aufmerksam gemacht, meldeten es ihrem Fürsten, der auf der Stelle nachgraben ließ. Allein man grub nicht tief genug und ließ dann die Arbeit liegen. Indessen blieb vom Graben ein Loch übrig, durch welches das Sonnenlicht bis in die Wohnung der wilden Weiber drang. Die wilden Weiber aber hatten von der Nachgrabung der Jäger nichts gemerkt und flogen wie gewöhnlich auf Raub aus. Die Kinder liefen ihrer blinden Hüterin fort und trieben sich in den unterirdischen Gängen herum. Als sie nun zu dem leuchtenden Loche kamen, glaubten sie eine Lampe zu sehen und griffen darnach. Sie griffen aber ins Erdreich und gruben nun fort, bis eine große Oeffnung sich vor ihnen aufthat. Sie giengen nun ins Freie und rannten endlich, über alle die Wunderdinge staunend, auf eine grüne Wiese, wo gerade ihre frühere Wärterin das Vieh weidete. An den Muttermalen erkannte diese die geraubten Kinder. Voller Freude machte sie sich auf und gieng auf das Schloß, wo die Eltern derselben gewohnt hatten.[128] Dort aber fand sie Alles öde und zerstört. Weil aber die Nacht hereingebrochen war, mußte die Kindsfrau im Schloße übernachten. In der Nacht aber kamen die wilden Weiber, die den Verlust der Kinder gemerkt hatten, voller Wuth auf das Schloß, zerrissen die Wärterin und nahmen die Kinder wieder mit sich fort und seit der Zeit hat man nichts mehr von ihnen gehört noch gesehen. (Vernaleken, Mythen und Gebr. S. 249.)

Quelle:
Grohmann, Josef Virgil: Sagen-Buch von Böhmen und Mähren. 1: Sagen aus Böhmen, Prag: Calve, 1863, S. 127-129.
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