Der Schusterjunge.

[193] Es war einmal ein Schusterjunge; er war von Hause aus ein Predigerssohn und hätte, wie sein Vater, für das Predigeramt studiren sollen; aber da verlor er Vater und Mutter, ehe er vierzehn Jahre alt war, und es war keiner da, der sich seiner angenommen und ihn zum Lernen angehalten hätte. So kam er bei einem Dorfschuster in die Lehre, und dort war er jetzt drei Jahre lang gewesen, zu der Zeit wo diese Geschichte beginnt. Er hatte manchen Hieb mit dem Spannriemen erhalten, wenn der Meister ihn ertappte, während er in Gedanken saß und den Pechdraht um den Finger wickelte, statt zu nähen, oder der Schusterkugel Gesichter schnitt, statt Zwecken einzupflöcken. Und die Hiebe hatten ihn denn auch so weit gebracht, daß er alles, was zum Handwerk gehörte, gelernt hatte: er konnte zuschneiden und nähen und nadeln [194] und pflöcken; aber er hatte niemals Lust an dem Leisten, der ihm zu Theil geworden war.

Da geschah es eines Tags, daß sein Meister ihm sagte, an diesem Tage solle er davon frei sein, zu Hause zu sitzen und zu nähen, er solle in den Wald gehen und Pflöcke schneiden, denn sie hätten keine mehr in der Werkstatt. Er lief eiligst in den Wald hinaus; das war so recht etwas für ihn. Aber an die Pflöcke dachte er nicht; er mußte auf jeden Hügel hinauf und in jedes Thal hinab; er mußte Himbeeren pflücken und Vogelnester suchen, er mußte Ameisenhaufen betrachten und Schmetterlinge fangen. Und der Tag verstrich und der Abend brach an, und er hatte noch keine Pflöcke. Da fiel ihm endlich ein, weshalb er hieher gekommen sei; und er begann nach Holunderbüschen zu suchen, denn er mußte ja Holunderholz für die Stifte haben; aber es war kein Holunder zu finden, und es ward dunkel draußen im Walde, und er wußte nicht mehr, wo er war; daher dachte er an nichts als das Eine: wieder aus dem Walde heraus zu kommen, und er begann zu laufen, bis er endlich so glücklich war, aufs freie Feld zu gelangen.

Gerade als er dort hinaustrat, kam ein großer Hund zu ihm hingesprungen und bellte ihn an, und er verstand, was der Hund bellte. »Wau, wau, du [195] Menschenkind!« sagte er; »du mußt gleich wieder mit mir in den Wald gehen; dort ist jemand, der mit dir sprechen will.« Der große Hund sprang um ihn her und bellte immerzu; da wagte er nicht, etwas anderes zu thun, als was derselbe ihm sagte, und er folgte ihm in den Wald hinein. Dort lag ein großer Kronhirsch todt an der Erde, und neben demselben stand ein gewaltiger brauner Bär und brummte; und dicht dabei auf einem Aste saß ein großer weißer Falke und schrie; und auf der Spitze eines hohen Grashalms saß eine kleine schwarze Ameise und pfiff; aber die Ameise war zuerst weder zu sehen, noch zu hören. Dann brummte der Bär und sagte dem Schusterjungen, er solle den Hirsch zwischen ihnen Vier theilen. Sie hätten alle Anspruch auf denselben, aber sie könnten sich über die Beute nicht einig werden.

Er langte also sein Schustermesser hervor, und zog dem Thiere das Fell ab. Dann nahm er zuerst den Kopf und gab ihn der Ameise. »Der ist am besten für dich,« sagte er, »denn er hat so viele kleine Löcher und Kammern, in denen du ein- und auslaufen kannst.« Dann schnitt er das Thier auf und nahm alle Eingeweide heraus, und die gab er dem Falken. »Mit denen ist dir am besten gedient,« sagte er, »sie sind so mollig weich, darin zu hacken.« Dann löste er die Beine ab und [196] gab sie dem Hunde. »Die passen am besten für dich,« sagte er, »daran hast du etwas zu knabbern.« Aber den Rumpf gab er dem Bären. »Denn du bist so groß und stark,« sagte er, »du kannst ihn am besten zerreißen.« Mit der Theilung waren sie alle wohlzufrieden, und jeder machte sich gleich über seinen Antheil her. Der Junge nahm das Fell und eilte von dannen; er dachte: wenn der Meister das schöne Hirschfell bekäme, würde er ihm wohl die Hiebe dafür erlassen, daß er keine Pflöcke mitgebracht hätte. Aber gerade als er aus dem Walde trat, kam der Hund ihm nachgeschossen und sagte, er müsse noch einen Augenblick wieder mitkommen: der Bär habe mit ihm zu reden. Ueber diese Nachricht war der Junge nicht erfreut; er dachte, er habe vielleicht das Fell nicht mitnehmen dürfen, und er klagte daher dem Hunde sein Leid und sagte: wenn es unrecht sei, daß er das Fell genommen, so bitte er um Verzeihung, und der Hund möge es mitnehmen. Er hatte gar keine Lust, wieder in die Nähe des Bären zu kommen; »denn jetzt, wo sie mit dem Hirsche fertig sind, theilen sie am Ende dich mit Haut und Haar,« dachte er. Aber der Hund sagte, er dürfe gern die Haut behalten; der Bär wolle nur ein Wörtchen mit ihm reden.

Da mußte er schon mit zurückgehen. Der Bär [197] war sehr freundlich und sagte ihm, sie hätten sich alle Vier darüber verständigt, daß sie ihm etwas schenken wollten, weil er so gut unter ihnen getheilt habe. Hinfort solle er die Macht haben, wann immer er es wünsche, ein Bär zu werden, eben so groß und stark und klug wie er selber sei; sobald er wolle, sei er wieder Mensch. Und der Hund sagte, er solle sich in einen Hund verwandeln können, eben so schnell wie er selber, und mit eben so feiner Witterung begabt; und der Falke sagte, er solle sich in einen Falken verwandeln können mit eben so schönem Gefieder, eben so hurtigen Schwingen und eben so scharfen Augen, wie er selbst habe; und zuletzt sagte die Ameise, er solle sich in eine Ameise verwandeln können, eben so klein und so hübsch und so gescheit, wie sie selber sei.

Der Junge dankte ihnen vielmals für ihre Güte, und dann beeilte er sich, den Heimweg anzutreten. Aber als er in die Nähe des Schusterhauses kam, dachte er, es sei doch nur ein klägliches Vergnügen, dort wieder mit Ahle und Pechdraht zu hantiren. »Wer doch jetzt nur ein Falke wäre!« dachte er, und in demselben Augenblick war er es. Da breitete er die Flügel und schoß durch die Luft wie ein Pfeil, und er flog immerzu über Land und Wasser; er wollte gleich recht weit, und so kam er ganz nach Spanien [198] hinunter. Dort kehrte er um und freute sich über alles, was er sah: über Berge und Flüsse, Städte und Menschen; alles war so neu und so herrlich.

So flog und flatterte er umher, bis er zu einem großen Schlosse kam, viel größer und prächtiger als irgend eins von allen, die er gesehn hatte. Es war sehr leicht zu sehen, daß es ein Königsschloß war. Aber das Seltsame daran war, daß alle Fenster gegen Ost und West und Süd zugemauert waren, und nur durch die nördlichen Fenster Licht und Luft in das prachtvolle Schloß kommen konnte. Draußen vor den Fenstern war ein schöner großer Garten, wo die Sonne schien, die Blumen dufteten und die Vögel sangen; und dorthin flog der Falke und setzte sich in einen hohen Baum, draußen vor einem offenen Fenster. Drinnen war große Gesellschaft: dort saß die junge, schöne Prinzessin mit ihren Hofdamen; und ihr Vater, der König, war auch bei ihr. Die Königin war todt, und sie war ihr einziges Kind, und der König liebte sie über alles in der Welt. Und ihretwegen hatte er das ganze Schloß so umgebaut, daß nirgends Fenster darin waren, als auf der Nordseite. Denn es war ihr bei ihrer Geburt prophezeit worden: wenn die Sonne sie beschiene, ehe sie dreißig Jahre alt wäre, so würde sie von einem Kobold entführt werden, dem [199] ihre Mutter wohl Anwartschaft auf sie gegeben hatte, ehe sie geboren ward. Die Prinzessin war jetzt fünfzehn Jahre alt, und sie hatte während ihrer ganzen Lebenszeit innerhalb des Hauses leben müssen. Nur abends, wenn die Sonne untergegangen war, konnte sie einen kleinen Spaziergang in dem schönen Garten machen; sonst mußte sie immer drinnen sein.

Ihr könnt euch denken, daß der Falke seine Augen gebrauchte. Nie hatte der arme Schusterjunge ein so schönes Mädchen gesehen, mit Haaren so glänzend schwarz wie Rabenschwingen, und einer Haut so blendend weiß wie das Gefieder des Falken, und einem Paar Augen so hell wie des Falken eigene. Die Königstochter war auch die erste, welche den wilden Vogel draußen im Baume gewahr wurde. »Vater!« sagte sie, »sieh doch den schönen fremden Vogel, welcher da draußen sitzt!« Der König blickte hinaus. »Ja, das magst du wohl sagen,« antwortete er; »das ist ein seltener Vogel, welcher hoch oben im Norden zu Hause ist; er hat ein königliches Wesen, und er ist auch wie ein König unter den anderen Vögeln. Es lohnte sich wohl, ihn zu besitzen, wenn man ihn nur fangen könnte.« Die Kammerfrau der Prinzessin war eine alte erfahrene Dame, und sie sagte, sie wisse wohl, wie man solche wilde Vögel fange. Sie band eine Schnur [200] ans Fenster und legte einen Fleischköder auf die Fensterschwelle, und dann gingen alle aus dem Zimmer hinaus, ausgenommen die Prinzessin. Sie wollte selbst diejenige sein, welche den Vogel finge, sie versteckte sich daher drinnen, mit dem Ende der Schnur in der Hand, und wartete, bis der Falke kam und sich auf die Fensterschwelle setzte; da zog sie das Fenster zu, und der Falke war gefangen. Er flog jedoch nicht des Fleischköders wegen auf die Fensterschwelle; aber als er die schöne Prinzessin nicht mehr sah und das Zimmer ganz leer wurde, vermochte er nicht länger zu widerstehen, sondern mußte dorthin, um hinein zu gucken.

So wurde er gefangen, und als er sah, wer ihn im Netze hatte, war er auch nicht ungehalten darüber, sondern fand sich sehr zahm und geduldig darein, daß die Prinzessin ihn ergriff und streichelte und liebkos'te und ihn in einen großen, vergoldeten Käfig that, als wäre er ein Papagei. Und dann rief sie die anderen herein, und der König und alle Hofdamen konnten den schönen Vogel, den sie bekommen hatten, nicht genug bewundern. Und die Prinzessin war so froh und stolz über ihren Fang, daß der Käfig nirgendwo anders als in ihrem Schlafzimmer stehen durfte.

Der Falke litt keine Noth: die Prinzessin fütterte[201] ihn mit Fleisch und mit Brod und gab ihm viele zärtliche Namen; aber auf die Länge war es doch langweilig, auf einer Stange im Käfig zu sitzen, und am Morgen früh, als es hell wurde, während die Prinzessin noch schlief, fiel es dem Falken ein, bei sich selbst zu sagen: »Wäre ich doch jetzt eine Ameise!« Und sofort war er eine Ameise und konnte bequem aus dem Käfig herauslaufen. Aber als sie nun auf die Diele kam, dachte die Ameise: »Wäre ich doch jetzt wieder ein Schusterjunge!« Und sofort war sie ein Schusterjunge und stand auf zwei Beinen im Schlafzimmer der Prinzessin. In demselben Augenblick erwachte die Prinzessin und kreischte laut auf und erfaßte den Glockenzug, der neben ihrem Bette hing, und klingelte drauf los, daß alle Kammerjungfern und Hofdamen zu ihr herein gestürzt kamen. Mittlerweile war jedoch der Schusterjunge im Nu wieder zur Ameise und die Ameise zum Falken geworden und saß schönstens auf seiner Stange im Käfig. Als Damen und Jungfern nun zu ihr herein gerannt kamen und wissen wollten, was passirt sei, und sie sagte, sie habe eine Mannsperson in ihrem Schlafzimmer erblickt, suchten sie allenthalben nach, in Schränken und unter dem Bette. Aber keiner war da, und sie waren alle überzeugt, daß keiner habe da sein können, denn Mannspersonen[202] können doch nicht durch geschlossene Thüren und Fenster spazieren. Die Prinzessin mußte das also geträumt haben, oder sie mußte krank sein; und deshalb erhielt sie Tropfen und Pulver und mußte den ganzen Tag über im Bette bleiben, und in der folgenden Nacht wurde bei ihr gewacht.

Sie schlief in dieser Nacht ganz ruhig, und am Morgen stand sie auf und beeilte sich, ihren Falken zu füttern. Sie setzte ihn auf ihre Hand und streichelte sein weißes Gefieder, und sie küßte und kos'te ihn und nannte ihn ihren herzliebsten Freund und sagte, es sei eine Schande, daß sie ihn einen ganzen Tag lang vernachlässigt habe. Da sprach der Falke und sagte: »Du mußt nicht bange vor mir sein, Prinzessin!« – »Kannst du auch sprechen?« rief sie aus. Ja, er könne mehr als das, sagte der Falke, und wenn sie versprechen wolle, ihn nicht zu verrathen, dann solle sie erfahren, was das sei. Sie versprach es sogleich, und da sagte ihr der Falke, er könne sich, wann er wolle, in eine Ameise, und in einen Hund, und in einen Bären, und auch in einen Menschen verwandeln, und er sei es, über den sie gestern Morgen so erschrocken wäre. Die Prinzessin war neugierig, ihn in all seinen Gestalten zu sehen. Ueber die Ameise lachte sie, über den Hund freute sie sich, vor dem Bären fürchtete sie [203] sich, aber als sie ihn in seiner eigenen menschlichen Gestalt sah, da fürchtete sie sich nicht mehr, sondern er gefiel ihr so am allerbesten; denn gleich und gleich gesellt sich gern, und obschon sie eine Königstochter und er nur ein Schusterjunge war, so war er doch ein sehr hübscher junger Mensch, und sie war doch auch nicht mehr als ein Menschenkind.

Von dieser Zeit an brauchte er nicht mehr im verschlossenen Käfig zu sitzen und durfte sie überall in seiner Falkenhülle begleiten. Er saß auf ihrer Schulter und aß aus ihrer Hand, wenn sie bei Tische saßen; und sie trug ihn auf ihrer Hand, wenn sie abends mit ihren Damen im Schloßgarten spazieren ging. Aber wenn sie allein in ihrem Zimmer war, nahm er seine menschliche Gestalt an, und sie hatten viel mit einander zu reden, und jedes von ihnen liebte das andere mehr als sich selbst. Sie waren einig darüber, daß sie Mann und Frau werden wollten; aber die Prinzessin wußte recht wohl, daß ihr Vater sie nie in aller Ewigkeit mit einem Schusterjungen verheiraten würde, so wenig wie mit einem Bären, einem Hunde, einem Falken oder einer Ameise. Daher ersann sie ein Mittel. Sie gab ihm einen Beutel voll Goldgeld und sagte, jetzt möge er fortfliegen, Menschengestalt annehmen, sich königliche Gewänder und prächtige Rosse [204] kaufen, Knappen und Pagen in seinen Dienst nehmen und dann in fürstlichem Aufzuge herkommen und um sie anhalten.

Eines Tages war dann der Falke verschwunden, und niemand außer der Prinzessin wußte wohin er geflogen sei. Sie that, als wäre sie ganz untröstlich über den Verlust ihres herrlichen Falken, und der König war wirklich verdrießlich, daß man den seltenen fremden Vogel verloren habe. Aber dabei war ja nichts zu machen: der König hatte sich also den Falken aus dem Sinne geschlagen, und die Prinzessin hatte ihre Trauer verwunden, als einen Monat darauf ein prächtiger Aufzug in den Hof des Königsschlosses geritten kam. Es war der Sohn des Königs von Engelland, hieß es, Prinz Falk, der mit seinem Gefolge von Rittern und Knappen und vierundzwanzig aufgezäumten, von Gold und Silber blitzenden Rossen herankam. Und sie wurden gastfrei im Schlosse des spanischen Königs aufgenommen, und der fremde Königssohn brachte sein Anliegen vor und hielt um die Tochter des Königs an. Der König antwortete, er wolle seiner Tochter die Entscheidung überlassen, er wolle ihr keinen Mann aufzwingen. Aber er stelle die Bedingung, daß der, den sie zu ihrem Gatten wähle, ihren Aufenthalt theilen und in dem Schlosse [205] mit den Fenstern gen Norden wohnen müsse, und sie nicht aus ihrer Heimat fortführen dürfe, ehe sie dreißig Jahre alt sei, und jetzt zähle sie erst fünfzehn. Denn wenn die Sonne sie vor dieser Zeit bescheine, so gehöre sie den Kobolden, und der König habe ihrer Mutter gelobt, bis dahin über sie zu wachen. Darauf ging der fremde Prinz ein, und es wurde zu der Prinzessin geschickt, sie möge kommen und den Bewerber in Augenschein nehmen und sich innerhalb dreier Tage entscheiden. Sie wartete denn auch bis zum dritten Tage, ehe sie erklärte: wenn ihr Vater es wünsche, so wolle sie den englischen Prinzen heiraten, der ja kein anderer als ihr lieber Falke war. Die Sache ward also abgemacht, und es wurde erst Verlobung und dann Hochzeit gefeiert, und das dauerte viele Tage mit allerlei Festen und Lustbarkeiten.

Eines Tages war die ganze Gesellschaft zu einem andern königlichen Schlosse hingefahren, wo ein Turnier und ein Thiergefecht abgehalten wurden; aber das Brautpaar war zu Hause geblieben: die Braut durfte ja der Prophezeiung halber niemals ins Freie hinaus. Es war ein trüber Tag, und das Wetter sah mehr nach Regen als nach Sonnenschein aus; da sagte Prinz Falk, es könne gewiß keine Gefahr dabei sein, wenn man hinführe und sich die Herrlichkeit ansähe. [206] Und die Prinzessin wollte natürlich gern etwas mehr sehen, als sie von ihren Fenstern gen Nord erblicken konnte; sie fuhren also von dannen und kamen zu der übrigen Gesellschaft. Aber kaum waren sie dort angelangt und hatten unter offenem Himmel Platz genommen, um dem Turnier zuzusehen, da brach die Sonne einen Augenblick hervor, und ein Strahl fiel auf die Prinzessin an der Seite ihres Bräutigams. Im selben Augenblick fühlte er, daß sie von ihm weggerissen ward, und er konnte sie nirgends erblicken. »Wärest du jetzt ein Hund!« dachte er, und sofort war er es, und er rannte fort: jetzt konnte er ja ihre Spur wittern. – Es entstand jetzt ein Jammer ohne gleichen, eben so viel Trauer, wie vorhin Freude geherrscht hatte: die Prinzessin war verschwunden, und der Prinz dazu. Die Hochzeitsgäste zerstreuten sich, jeder nach seiner Wohnung, und der König zog heim nach seinem Palaste und schloß sich dort ein. Nun war das Unglück geschehen, dem er so viele Jahre hindurch sorgfältig vorzubeugen gesucht hatte.

Mittlerweile verfolgte der Hund die Spur, und die führte ihn weit, weit in die wilde Wüste hinaus. Endlich verlor sie sich an einem Berge. Der Hund sprang zur Rechten und Linken, er sprang hinauf und hinab; die Spur führte nicht weiter. In diesen Berg [207] mußte die Prinzessin entrückt sein. Aber es war weder Thor noch Thür zu finden. Da schuf der Hund sich zu einer Ameise um und begann nach einem Eingange in den Berg zu suchen. Stunden und Tage vergingen, die Ameise lief auf und nieder, herein und hinaus an allen Schluchten und Löchern und Spalten, die sich an der Stelle des Berges befanden, wo der Hund die Spur verloren hatte. Da kam sie endlich in eine Spalte, der sie tiefer und tiefer in den Berg hinein folgte, bis sich dieselbe zu einer großen Höhle erweiterte, die wie ein Vorhof zu einem ganzen Schlosse war, das sich drinnen im Berge befand. Und die Ameise lief immer weiter, durch lange Gänge und viele Treppen hinan, durch den einen Saal nach dem andern, bis sie in ein Bergzimmer kam, wo eine brennende Lampe hing, und dort saß die Prinzessin mit verweinten Augen, und sie war nicht allein, sondern der garstige Kobold war auch da: er lag und reckte sich und hatte sein scheußliches Koboldhaupt auf ihren Schooß gelegt; sie mußte sitzen und sein widriges Koboldhaar kämmen, während er lag und schlief.

Die Ameise lief in das Zimmer hinein und an der Prinzessin hinauf, bis sie dicht an ihr Ohr kam. Dann flüsterte sie ihr zu: »Da bin ich, dein herzliebster Freund.« Sie zuckte zusammen; aber sie erkannte doch [208] seine Stimme, und sie hatte ja gesehen, daß ihr Falk auch eine Ameise sein könne. Dann flüsterte er ihr zu: »Alles kann noch gut werden. Frage jetzt den Kobold, wie lange du hier bleiben sollst!« Da ließ sie die Hände sinken und hörte auf, das Haar des Kobolds zu kämmen. Er erwachte und frug: »Weshalb hältst du inne?« – »Ach, ich dachte nach,« sagte sie. »So, was dachtest du denn?« frug der Kobold. »Ich dachte, ob ich all meine Tage hier bleiben soll,« sagte die Prinzessin. »Ja, gewiß,« sagte der Kobold, »ich gebe dich nicht frei, so lange ich lebe. Besorge du nur dein Geschäft!« Da ließ sie den Kamm wieder durch das garstige Koboldhaar gleiten, und der Kobold schlief behaglich ein. Da flüsterte die Ameise wieder: »Frag weiter!« Sie ließ abermals die Hände sinken, und der Kobold erwachte und sprach: »Fahre fort! Verfällst du schon wieder in Gedanken?« – »Ja,« sagte die Prinzessin, »ich dachte, wie lange dein Leben wohl währen kann.« – »So, thatest du das?« sagte der Kobold, und dann grinste er; »mein Leben währt länger als dein Leben, und mein Leben kann niemand rauben, denn es ist in meinem Herzen; und das habe ich nicht bei mir, das ist in besserem Gewahrsam. Besorge du nur dein Geschäft, und laß die dummen Gedanken fahren!« Da mußte sie wieder den Kamm [209] in Bewegung setzen, und der Kobold schlief ein. Aber die Ameise flüsterte von neuem: »Frag weiter!« Da ließ die Prinzessin abermals die Hände im Schoße ruhn, und der Kobold erwachte, und jetzt war er verdrießlich über all die Störung in seinem süßen Schlaf. »Hole der Teufel die Gedanken!« sagte er; »sind die es jetzt wieder, die dich stören?« – »Du gibst mir ja selber so viel zu denken,« sagte die Prinzessin; »du sagst, du hättest ein Herz, aber du hättest es nicht bei dir. Das kann ich nicht verstehen. Wo ist es denn?« – »Es nützt nichts, wenn du es weißt,« sagte der Kobold, »aber es schadet auch nichts; daher magst du es gern erfahren. Weit fern von hier, in einem Lande, das Polen heißt, ist ein großer See, und in dem See ist ein Drache, und in dem Drachen ist ein Hase, und in dem Hasen ist eine Ente, und in der Ente ist ein Ei, und in dem Ei ist mein Herz. Es ist gut verwahrt, magst du glauben; niemand verfällt darauf. Und jetzt hab' ich dir etwas zu denken gegeben. Aber wenn du jetzt nicht dein Geschäft besorgst, so drehe ich dir den Hals um. Verstanden?« Da beeilte sich die Prinzessin, den Kamm in Gang zu setzen, und der Kobold schlief ein und schnarchte bald, daß der Berg erbebte.

Da flüsterte die Ameise der Prinzessin zu, sie solle[210] nur guten Muthes sein: sie werde bald von all ihrer Knechtschaft erlöst werden. Und dann lief sie, so schnell sie konnte, aus dem Zimmer und aus dem Berge hinaus und wurde ein Falk in der Luft und flog den weiten Weg nach Polen. Dort ließ sich der Falk am Ufer eines großen Sees nieder und wurde wieder ein Mensch. Es war gegen Abend, als Prinz Falk dort anlangte, und er schaute sich nach allen Seiten um, aber von dem Drachen war nichts zu erblicken. Ein kleines einzelnstehendes Haus lag dort; er ging in dasselbe hinein und bat, ob er die Nacht dort bleiben dürfe. Nein, sie seien nur arme Leute, sagten sie, und hätten kein Wohngelaß, um so feine Herren, wie ihn, aufzunehmen. Sie könnten ihn doch gern auf einem Stuhl sitzen lassen, meinte er, und das erlaubten sie ihm denn auch.

Am nächsten Morgen war er früh auf den Beinen und ging sogleich vor die Thür des Hauses; da sah er zwölf fette Schweine in einem Koben stehen. »Nun, ihr seid doch wohl nicht so arm, wie ihr euch ausgebt,« sagte er, als er wieder herein kam; »ich sehe, ihr habt zwölf gute Schweine im Stalle.« – »Gott sei uns gnädig,« sagte der Mann, »so gut ist's nicht um uns bestellt, daß die Schweine uns gehören; nein, die soll der Drache zum Frühstück haben. Denn [211] draußen im See wohnt ein Drache, der das ganze Land verheeren will, wenn ihm der König nicht jeden Tag zwölf fette Schweine giebt. Sie werden immer nachts hieher gebracht, und ich bin angestellt, um sie morgens zum Ufer hinab zu treiben. Aber jetzt sind bald keine Schweine mehr im Lande; und wenn sie verzehrt sind, wird es wohl schlimm über uns alle hergehen.« – »So will ich dich begleiten,« sagte der Prinz. »Ach nein,« sagte der Mann, »das geht nimmermehr an. Sieht er einen Fremden bei mir, so zerreißt er uns alle beide.« Aber es half nichts, was der Mann auch sagen mochte; der Prinz wollte mit, und er ging mit, als der Mann die Schweine zum Seeufer trieb. Sie waren nicht weit gegangen, als sie es im Walde rasseln und prasseln hörten; es war der Drache, der ans Land gepoltert kam, um sein Frühstück in Empfang zu nehmen. »Wäre ich jetzt ein Bär!« dachte der Prinz, und sofort war er es. Da brüllte der Drache: »Her mit meinen Schweinen!« Aber der Bär sagte: »Du mußt mich an ihrer Statt nehmen.« Und damit fuhr er los auf den Drachen, und sie kratzten und bissen sich lange Zeit mit Krallen und Zähnen, ohne daß einer von ihnen den andern überwältigen konnte. »Hätte ich jetzt die zwölf Speckseiten im Leibe gehabt,« sagte der Drache, »so hätte ich dir schon den [212] Garaus gemacht.« »Ja, hätte ich einen Bissen Brod und einen Schluck Wein gehabt, so würde es mit dir aus gewesen sein,« sagte der Bär. Jetzt waren sie beide so müde, daß sie nicht mehr kämpfen konnten. Da wälzte der Drache sich in den See und verschwand. Aber der Bär ward wieder Mensch und sagte zu dem Manne: »Die Schweine kannst du wieder in den Koben sperren; der Drache will heute kein Frühstück.«

Aber er selbst wollte etwas zu essen haben; und er ging in die Königsstadt, die nicht weit entfernt lag, und pflegte sich gut den Tag über mit Speise und Trank, und er hielt seinen guten Schlaf, ehe er am nächsten Morgen zu dem kleinen Hause am Seeufer hinausfuhr. Er kam dort früh genug an, gerade als der Mann vierundzwanzig Schweine zum See trieb; denn der Drache hatte ja noch zwölf von gestern her zu gute. Sie hörten es abermals rasseln und prasseln, als der Drache ans Land kam; aber er war nicht ganz so übermüthig wie gestern, als er schrie: »Her mit meinen Schweinen!« Der Prinz war jetzt wieder Bär und gab dieselbe Antwort: »Du mußt mich an ihrer Statt nehmen.« Und sie fuhren auf einander los und zerrten und balgten sich, daß die Erde unter ihnen bebte. Endlich sagte der Drache: »Hätte ich jetzt die vierundzwanzig Speckseiten im Leibe gehabt, so hätte [213] ich dir schon den Garaus gemacht.« Und der Bär antwortete: »Ja, hätte ich nur einen Bissen Brod und einen Schluck Wein gehabt, so würde es mit dir aus gewesen sein.« Dann wälzte der Drache sich in den See, und der Bär ward wieder Mensch und fuhr nach seiner Herberge zurück.

Der Häusler sperrte die vierundzwanzig Schweine in den Koben, und dann ging er eilends zur Stadt hinein und zum Könige hinauf und erzählte ihm, der Drache habe weder gestern noch heute seine Schweine erhalten; denn ein fürchterlich großer Bärenmensch sei gekommen und habe mit dem Drachen gekämpft, bis keiner von ihnen mehr konnte. Und er erzählte auch, was der Drache, und was der Bär gesagt hätten, ehe sie sich trennten. Das hörte der Sohn des Königs; er war nur noch ein Knabe, aber ein großer Wagehals. Es sei doch eine Schande, sagte er, daß niemand dem Bären zu dem Brod und Wein verholfen habe, deren er bedurft hätte. Mehr sagte er nicht; aber er wußte wohl, was er thun wollte.

Am nächsten Morgen trieb der Häusler sechsunddreißig Schweine zum Ufer hinab. Der König hatte selbst gesagt, es ginge nicht anders: der Drache müßte haben, was ihm zukäme, so lange sie es herbeischaffen [214] könnten. Denn dieser König war eben kein Held. – Als die Schweine zum Ufer hinab kamen, stieg der Drache ans Land und schnappte eins derselben weg, ehe der Bär sich blicken ließ. Aber dann bekam er andere Beschäftigung, und die beiden bissen und kratzten sich und zerrten und balgten sich, daß es grauslich anzusehen war. Aber keiner von ihnen vermochte noch den andern zu überwältigen. »Hätte ich nur die fünfunddreißig Speckseiten im Leibe gehabt,« sagte der Drache, »so hätte ich dir schon den Garaus gemacht.« – »Ja, hätte ich nur einen Bissen Brod und einen Schluck Wein gehabt, so wäre es mit dir aus gewesen,« antwortete der Bär. Und in demselben Augenblick ward ihm ein großes Waizenbrod in den Rachen geworfen, und eine ganze Kanne Wein hinterdrein; es war der kleine Wagehals von Königssohn, der sich dort hinausgeschlichen hatte und jetzt seine Gelegenheit wahrnahm und dem Bären gab, was er bedurfte. Und sobald er diese Herzstärkung empfangen hatte, schoß er wieder auf den Drachen los und zerriß und zerspliß ihn. Da sprang ein lebendiger Hase aus dem todten Drachen hinaus und schoß von dannen nach dem Walde zu. Aber in demselben Augenblick ward der Bär zum Hunde, holte den Hasen ein und biß ihn todt. »Rapp, rapp!« sagte es, da flog eine Ente aus [215] dem todten Hasen empor. Allein eben so schnell war ein Falke statt des Hundes zur Stelle und setzte der Ente nach und zerzauste sie mit Schnabel und Krallen. Da ließ die Ente ein Ei zur Erde fallen. Aber der Falke gebrauchte seine Augen und sah zu, wohin es fiel. Und bald stand der Prinz in seiner eigenen Gestalt da und hielt das Ei in der Hand. Es war von hoch oben herab gerade auf einen Stein gefallen; aber es war dennoch heil und unverletzt geblieben, ohne den leisesten Riß.

»Es ist hart,« sagte der Prinz; »aber ich weiß doch, was noch härter ist.« Dann verwandelte er sich wieder in einen Falken und flog den langen Weg zum Koboldsberge zurück. Dort wurde der Falk zur Ameise und lief durch die Spalte in den Berg hinein. Und als dieselbe dort in die breite Höhle kam, ward die Ameise zum Manne, und der hielt das Ei in der Hand. Und er eilte durch die langen Gänge und sprang die vielen Treppen hinan und stürmte durch die großen Säle, bis er in das Bergzimmer kam, wo die Lampe brannte, und wo die Prinzessin mit dem Koboldshaupte in ihrem Schoße saß. Sie hörte ihn kommen, sie ließ den Kamm fallen und schlug die Hände zusammen. Jetzt galt es Leben oder Tod für ihn und für sie. Der Kobold fuhr aus dem Schlummer [216] empor und griff nach seiner eisernen Stange; aber im selben Augenblick stand Prinz Falk in der Thür und schleuderte ihm das Ei gerade an die Stirn, so daß es zerbrach und über seine scheußliche Fratze hinablief. Und sofort fiel der Kobold hintenüber und schlug mit dem Kopf auf die Steindiele, und war starr und todt wie ein Hering.

In demselben Augenblick, da der Kobold todt war, zerbarst der Berg von oben bis unten, und der Prinz und die Prinzessin standen auf einem Dachsöller des prächtigsten Schlosses, das man sehen konnte. Alle Säle waren voll Gold und Silber und kostbarer Steine, und die Gegend um das Schloß war jetzt keine Wüste mehr, sondern Lusthaine und Gärten mit Bäumen und Blumen. Jetzt war der ganze Bann gehoben, und alles ward wieder, wie es gewesen war, ehe der Kobold es verzaubert hatte. Das junge Paar machte sich alsbald auf die Reise zu dem Vater der Prinzessin. Ein Jubel über alle Beschreibung entstand bei ihrer Ankunft. Alle Hochzeitsgäste wurden wieder geladen, und sie hielten von neuem Hochzeit, und der König schenkte dem Prinzen das halbe Reich als Mitgift. Das junge Paar wohnte auf dem Schlosse, das der Kobold besessen hatte; und der König ließ in seinem Schlosse jetzt Fenster gen Ost und West und Süd, so [217] gut wie gen Nord, einsetzen. Er lebte lange genug, um noch Freude an seinen Enkeln zu haben, und als er starb, wurde der Schusterjunge König von Spanien.

Quelle:
Grundtvig, Svend: Dänische Volksmärchen 2. Leipzig: Joh. Barth, 1879, S. 193-218.
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