In des Wolfes Bau und Adlers Klau'.

Es war einmal ein König und eine Königin, die hatten einen kleinen Sohn. Eines Tages wollten der König und die Königin miteinander ausfahren, aber ihren Sohn nicht mitnehmen. Aber er wollte dennoch mitgenommen werden, darum lief er hinter dem Wagen drein; und da er durch nichts davon abzubringen war, ließ der König halten und sagte zu dem Prinzen, wenn er dieses silberne Messer und diese Gabel, die er ihm jetzt gab, nehmen und zu seiner Amme heimbringen wolle, so dürfte er wiederkommen und mitfahren, sie würden unterdeß auf ihn warten bis er zurückkomme.

Der Prinz nahm das silberne Besteck und lief dem Schlosse zu. Aber, daß ihn der König mit diesem Auftrag ins Schloß schickte, war nur ein Vorwand um ihn los zu bekommen. Als der Knabe ein Stück weit gelaufen war und sich einmal umschaute, sah er, daß der [1] Wagen davonfuhr. Da kehrte der Prinz sogleich um und lief dem Wagen wieder nach, konnte ihn aber nicht erreichen. Als er in einen Wald kam, wollte er ihm deßhalb von einer andern Seite entgegenlaufen, aber er verirrte sich und lief schnurstracks in eine Wolfshöhle hinein. Der Wolf war zwar zu Hause, aber er war gerade nicht hungrig, denn er war soeben mit einer guten Mahlzeit fertig geworden, drum that er dem Knaben nichts zu Leide, sondern begann wie ein Hund mit ihm zu spielen.

Während sie aber so spielend vor der Wolfshöhle herumsprangen, flog ein Adler über ihre Häupter hin, sah den Knaben, senkte sich pfeilgeschwind nieder, ergriff ihn mit seinen Klauen und flog mit ihm davon. Er wollte ihn in sein Nest; das auf einer Insel draußen im Meere lag, schleppen; unterwegs aber wurde ihm der Knabe zu schwer und er ließ ihn fallen. Er fiel ins Meer, und sogleich kam ein Wallfisch daher geschwommen und verschluckte ihn.

Als der Prinz kurze Zeit im Bauche des Wallfisches gelegen hatte, kam es ihm sehr langweilig darin vor. Er zog daher das silberne Messer und die Gabel heraus und fing an, im Bauch herumzuschneiden. Das konnte der Fisch nicht aushalten; er starb und trieb ans Land.

[2] Der Knabe konnte sich doch nicht allein herausfinden. Als es aber im Lande ruchbar wurde, daß ein Wallfisch ans Ufer getrieben sei, kamen viele Leute zum Strande herunter, um ihn zu besehen und anzustaunen. Unter diesen war auch ein Gutsherr mit seinem Sohn, einem Knaben von des Prinzen Alter. Während diese beiden um den Fisch herumgingen und ihn betrachteten, hörten sie etwas in demselben schreien und rufen. Und als sie ihn aufschnitten, kam der Prinz so munter und frisch wieder heraus, als er verschluckt worden war.

Der Gutsherr nahm dann den Prinzen mit sich nach Hause und ließ ihn mit seinem Sohne erziehen. Die beiden Knaben wurden bald gute Freunde, und der Prinz hatte es recht gut in seinem neuen Heim. Da geschah es eines Tages, als die beiden miteinander Ball spielten, daß der Prinz den Ball aus Unvorsichtigkeit so schleuderte, daß er den Sohn des Gutsbesitzers gerade an die Schläfe traf, und zwar so unglücklich, daß der Knabe todt umfiel. Darüber wurde der Gutsherr so zornig, daß er den Prinzen verurtheilte, lebendig zugleich mit dem Todten begraben zu werden, denn er meinte, er könne mit ihm thun, was er wolle, weil er ihn aus dem Wallfisch herausschneiden ließ.

Das war zu der Zeit, als die Leute noch Heiden[3] waren und in großen Hügeln draußen auf dem Feld begraben wurden. Und der lebende Königssohn wurde zugleich mit seinem todten Spielkameraden in einem Hügel beigesetzt, und mit großen, schweren Steinen wurde der Hügel verschlossen. So saß der arme Prinz da unten in finsterer Grabesluft. Plötzlich merkte er etwas Lebendiges, das im Innern des Hügels herumkrabbelte. Er griff nach demselben so gut es in der Dunkelheit ging und fühlte, daß es etwas Haariges war. Er hielt es fest und wurde weiter gezogen und durch die Erde geschleppt. Es war nämlich ein Fuchs, der sich eine Höhle unter dem Hügel gegraben, den der Prinz am Schweif erwischte, und der ihn nun durch einen seiner geheimen Gänge in seinen Fuchsgraben und von da weiter ins Freie hinaus zog; denn er war ganz erschrocken und suchte blos seine Bürde los zu werden.

Als sich der Königssohn wieder unter freiem Himmel befand, machte er sich auf die Beine und schaute, daß er in den Wald kam, denn auf den Gutshof, dessen Herr ihn begraben ließ, durfte er ja um keinen Preis der Welt mehr zurückkommen. Er wanderte nun mehrere Tage durch die dunkelsten Wälder, die er nur finden konnte, bis er von einem Dieb und Räuber angetroffen ward, der hier in den wilden Wäldern [4] hauste. Er nahm den Knaben mit sich in seine Räuberhöhle, gab ihm zu essen und zu trinken, und war überhaupt recht freundlich mit ihm, denn so ein einzeln wild herumstreichender Knabe konnte ihm ja nicht gefährlich sein, sondern im Gegentheil Gesellschaft leisten und ihm nützlich werden.

Der Dieb nahm den Knaben jede Nacht mit sich fort, und der Königssohn mußte sich darein finden, ihm sowohl bei Bauern als bei Herren stehlen zu helfen.

In einer Nacht kamen sie einmal zu einem großen Schlosse und gingen zum Stall hin. Der Dieb sagte zu dem Knaben, daß er dort oben durch ein kleines Stallfenster, das offen stand, hindurchkriechen solle. Ganz vorne im Stall stand ein Grauschimmel mit vier goldenen Hufen, und den wollte der Dieb haben, deßhalb sollte ihn der Knabe losmachen, durch den Stall ziehen, die Thüre sodann von innen öffnen und den Grauschimmel herausführen. Der Dieb selbst wollte außen warten und das Pferd dann in Empfang nehmen.

Der Knabe that wie ihm geheißen: er kroch durch das kleine Fenster und kam glücklich in den Stall, in dem er vorne das Pferd fand und von der Krippe losmachte und mit diesem wieder zurück durch den Stall schleichen wollte. Als aber die goldenen Hufe auf das[5] Steinpflaster klappernd aufschlugen, erwachte zuerst ein Stallknecht und der rief nach den andern, und im Nu kamen alle mit Lichtern in den Stall herunter und ergriffen den Knaben auf frischer That.

Dies wurde dem König gleich am Morgen gemeldet, – denn es war der König, welchem das Pferd gehörte – und er sagte, daß man den Dieb noch am selben Vormittag aufhenken solle. Er wolle dann selbst kommen und zusehen, daß es auch richtig geschehe.

Als der Knabe den Strick schon um den Hals hatte und aufgeknüpft werden sollte, bat er, noch einige Worte reden und seine Geschichte erzählen zu dürfen. Es wurde ihm erlaubt und er sprach:


»Ich war zuerst in des Wolfes Bau,

Und kam alsdann in des Adlers Klau',

Im Wallfischbauch hab' ich zugebracht,

Lebendig lag ich in Grabesnacht,

Dem Räuber diente ich so zum Schluß,

Daß ich mein Leben verlieren muß.

Das Silbermesser mit Gabel doch

Von meinem Vater, das hab' ich noch,

Das ich der Amme einst bringen sollt',

Als er im Wagen davongerollt.«


Als der König, der der Hinrichtung zuschauen wollte, dies hörte, sprang er auf und umarmte den kleinen Dieb, welcher gerade aufgehängt hätte werden [6] sollen, denn es war ja niemand anders als sein eigener Sohn.


Und Freude herrschte im ganzen Land

Weil seinen Erben der König fand.

Als Prinz nun reitet er aus dem Schloß

Auf goldbehuftem und stolzem Roß.

Quelle:
Grundtvig, Svend: Dänische Volksmärchen [1]. Leipzig: Joh. Barth, 1878, S. 1-7.
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