Der Lindwurm von Lambton.

[49] Vor vielen, vielen Jahren führte der junge Erbe von Lambton ein leichtsinniges, wüstes Leben. Er kümmerte sich weder um Gott, noch um die Menschen und gieng am Sonntagmorgen viel lieber auf den Fischfang, als zur heiligen Messe. So war er eines Sonntags wieder damit beschäftigt, seine Angelruthe in den Wearfluss zu werfen. Als er das mehrmals ohne Erfolg gethan hatte, begann er vor Wuth heftig zu fluchen. Das erregte Ärgernis unter seinen Pächtern und Knechten, die gerade vorbeikamen, denn sie waren alle auf dem Wege nach der Kapelle von Brugeford begriffen.

Gleich darauf spürte er, dass etwas an seiner Angel zog, und in der Hoffnung, dass er endlich einen großen, schönen Fisch gefangen habe, wendete er all seine Kraft und Geschicklichkeit daran, seine Beute herauszuziehen. Aber wie groß war seine Enttäuschung und sein Entsetzen, als er anstatt eines Fisches einen scheußlichen Lindwurm zu seinen Füßen sah! Rasch riss er das Unthier vom Angelhaken los und warf es in einen Brunnen in seiner Nähe. Der heißt Lindwurmbrunnen bis auf den heutigen Tag.

Kaum hatte der junge Erbe seine Angel wieder in den Strom geworfen, als ein Fremdling von sehr ehrwürdigem Aussehen vorbeikam. Er fragte ihn, ob er reichlichen Fang gethan habe.[50]

Darauf antwortete der junge Lord: »Ich glaube wirklich, ich hab' den Teufel in höchsteigener Person gefangen. Schau' dort in den Brunnen hinein und überzeug' dich selbst.«

Der Fremdling blickte hinein und sagte, dass er nie in seinem Leben etwas Ähnliches gesehen habe. Es sehe einer Eidechse ähnlich, habe aber an jeder Seite des Rachens neun Öffnungen. Dann fügte er hinzu, er fürchte sehr, das bedeute nichts Gutes.

Unbeachtet blieb der Lindwurm in dem Brunnen, der dem täglich größer werdenden Ungethüm bald zu eng wurde. Es kroch hervor und war von nun ab tagsüber im Wear. In der Mitte desselben befand sich ein Felsen, und dort lag er zusammengerollt da. Des Nachts aber kroch der Lindwurm zu einem Berge, der sich in der Nähe befand. Er wurde immer größer und größer, so dass er bald den Berg dreimal umringeln konnte. Der Berg heißt Lindwurmberg bis auf den heutigen Tag. Er ist von länglicher Form und ungefähr eine und eine halbe Meile vom Lambtonschlosse entfernt.

Bald war das Ungethüm der Schrecken des ganzen Landes. Es sog den Kühen die Milch aus, erwürgte das Vieh, verschlang die Lämmer und plünderte die hilflosen Bauern in jeder Weise. Nachdem es das linke Ufer des Stromes vollständig verwüstet hatte, kam es auf das rechte Ufer hinüber, in die Nähe des Schlosses Lambton. Dort lebte der alte Lord allein und verlassen, Sein Sohn hatte endlich über sein wüstes Leben Reue empfunden und in fernen Ländern Kriegsdienste genommen.

Als die Bewohner des Schlosses vernahmen, dass ihr Feind nahe, versammelten sie sich erschreckt und hielten Rath. Der eine sprach dies, der andere jenes; endlich rieth der Verwalter, ein alter, erfahrener Mann, man solle den großen Trog im Hofe[51] unverzüglich mit Milch füllen. Das geschah. Das Ungeheuer kam und trank die Milch aus, dann kehrte es, ohne jemandem etwas zu Leide zu thun, in den Fluss und von da zu dem Berge zurück. Am nächsten Tage kam der Lindwurm wieder. Eiligst füllte man den Trog mit Milch, und er trank ihn von neuem leer. Die Milch von neun Kühen war nöthig, um den Trog zu füllen. Regelmäßig kam nun das Ungethüm und gieng ruhig wieder davon, nachdem es den Trog geleert hatte. Nur wenn derselbe nicht ganz voll war, dann gerieth es in eine furchtbare Wuth, schlang seinen Schweif um die Bäume im Park und entwurzelte sie. Die Schreckenskunde von dem Unthier hatte sich über das ganze Land verbreitet, und manch tapferer Ritter hatte den Kampf mit dem Ungeheuer aufgenommen, aber vergebens, denn wenn es selbst entzwei gehauen wurde, so wuchsen die Theile immer wieder zusammen; umsonst wurden so viele Menschenleben geopfert, das Unthier blieb doch im ungestörten Besitze des Berges und seiner nächsten Umgebung.

Nach sieben langen Jahren kehrte der Erbe von Lambton in die Heimat zurück, durch mancherlei Erfahrungen gewitzigt und gebessert. Das Land seiner Väter war verwüstet, seine Leute beinahe zugrunde gerichtet, der Vater, von Kummer und Sorge gebeugt, stand mit einem Fuße im Grabe. Der junge Lord gönnte sich keine Ruhe. Er setzte über den Strom und betrachtete den Lindwurm, der, wie immer, um dem Hügel gerollt dalag. Als er hörte, wie es den anderen Rittern im Kampfe mit dem Unthier ergangen war, holte er sich bei einer Wahrsagerin Rath.

Diese schalt ihn zuerst in heftiger Weise, dass er diese Geißel über sein Haus und das ganze Land gebracht hatte. Aber als sie sah, welch tiefe Reue er empfand, und dass er um jeden Preis das Land von dem selbstverschuldeten Übel befreienwollte, da gab sie ihm Rath und Weisung. Er sollte seine beste Rüstung dicht mit Lanzenspitzen besetzen lassen und sie anlegen. Dann sollte er sich auf den Felsen mitten im Strome begeben und dort im Vertrauen auf sein gutes Schwert und auf die gütige Vorsehung den Feind erwarten. Aber bevor er in den Kampf zog, musste er schwören, dass er im Falle seines Sieges das erste lebende Wesen, das ihm auf dem Heimwege begegnete tödten würde. Wenn er diesen Schwur nicht erfüllte, dann würde neun Geschlechter hindurch kein Lord von Lambton eines natürlichen Todes sterben.


Der Lindwurm von Lambton

Der junge Lord leistete den feierlichen Eid in der Kapelle zu Brugeford. Dann legte er die Rüstung an, welche ganz mit Lanzenspitzen besetzt war, und begab sich mit gezogenem Schwerte auf den Felsen im Wear. Um die gewohnte Stunde rollte sich der Lindwurm auf und nahm seinen Weg zum Schlosse. Als er an dem Felsen vorbeikam, auf welchem der Ritter seiner harrte, da versetzte ihm dieser einen wuchtigen Hieb auf den Kopf. Wüthend, wenn auch unverletzt, schlang das Ungeheuer seinen Schweif um ihn, um ihn zu erwürgen.

Nun sah der Ritter, wie wertvoll der Rath der Wahrsagerin war. Je enger das Ungethüm ihn umschlang, desto mehr tödtliche Wunden brachte es sich selbst bei; bald war der Fluss von seinem Blute roth gefärbt. Da das Ungeheuer infolge des Blutverlustes immer schwächer wurde, gelang es dem Ritter endlich, es in zwei Hälften zu spalten. Diesmal war es aber dem Lindwurm unmöglich, wieder zusammenzuwachsen, denn die heftige Strömung riss gleich die eine Hälfte mit sich fort; so wurde das Land von dem Ungethüme befreit.

Während des langen, verzweifelten Kampfes beteten sämmtliche Bewohner des Schlosses für den jungen Lord. Er hatte[54] versprochen, wenn er als Sieger aus dem Kampfe hervorgehe, in sein Horn zu stoßen. Das sollte seinem Vater künden, dass er außer Gefahr sei, und dass sein Lieblingshund losgelassen werde. Der sollte, den Weisungen der Wahrsagerin und dem Schwure des Ritters gemäß, das Opfer sein. Als aber das Horn ertönte, da vergaß der alte Lord alles, er wusste nur, dass sein Sohn außer Gefahr sei, und er stürzte hinaus, dem jungen Helden entgegen, um ihn zu umarmen.

Wie vom Blitze getroffen stand der Erbe von Lambton da; was sollte er thun? Er konnte unmöglich die Hand gegen den Vater erheben. Wie sollte er nun seinen Schwur erfüllen? In seiner Bestürzung stieß er noch einmal ins Horn. Der Hund wurde losgelassen und sprang zu seinem Herrn, und dieser stieß ihm das Schwert, das noch von dem Blute des Ungethüms rauchte, ins Herz.

Aber vergebens. Der Schwur war gebrochen, und der Ausspruch der Wahrsagerin gieng in Erfüllung: neun Geschlechter hindurch lastete der Fluch auf der Familie Lambton.

Quelle:
Kellner, Anna: Englische Märchen. Wien, Leipzig, Berlin, Stuttgart: Verlag der »Wiener Mode«, [1898], S. 49-55.
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