52. Der Bräutigam mit der goldenen Nase

Es war einmal ein sehr schönes und stolzes Mädchen. Jeden Tag kamen Freier, die sie haben wollten, aber keiner gefiel ihr, denn jeder hatte ja eine natürliche Fleischnase, und das Mädchen wollte einen Mann, der eine goldene Nase hatte.

Als sie nun genug Freier heimgeschickt hatte, ohne die gewünschte Goldnase zu finden, zog sie selbst in die Welt, um sich einen Bräutigam zu suchen. Sie reiste und reiste, aber ohne besseren Erfolg. Schließlich fand sie jedoch den gewünschten Bräutigam mit der goldnen Nase; das war aber Zauberei und ging nicht mit rechten Dingen zu.

Als das Mädchen den Bräutigam fand, saß er gerade in seiner Kammer und machte Stiefel. Sofort hatte er dem Mädchen gefallen, und was brauchte man da mehr, als die Verlobung abzuschließen? Die Verlobung kam auch wirklich zustande. Die Goldnase verlangte aber, daß die Braut vor der Trauung mit ihm an drei Kirchen vorbeifahre; darauf ging sie auch ein.

Die Zeit der Trauung kam heran. Der Bräutigam ließ zwei schwarze Hengste vor den Wagen spannen, setzte sich dann mit seiner Braut in den Wagen und jagte zur ersten Kirche. Als sie vor der Kirche ankamen, ging er hinein und sagte seiner Braut, sie solle im Wagen so lange warten, bis er zurückkehre. Die Braut gehorchte. Der Bräutigam war ziemlich lange in der Kirche, kam aber noch vor den Kirchenbesuchern heraus, setzte sich in den Wagen und jagte zur zweiten Kirche.

Im Augenblick waren sie angelangt. Dort machte der Bräutigam Goldnase es ebenso wie bei der ersten Kirche und ließ die Braut im Wagen sitzen, ging selbst in die Kirche und kam ebenso vor den Kirchgängern heraus; dann jagte er zur dritten Kirche. Hier tat er dasselbe, blieb aber recht lange in der Kirche. Die Braut dachte: ›Wer weiß, was er in jeder Kirche tun mag?‹ Sie stieg aus dem Wagen, ging ins Kirchenvorhaus und blickte durchs Schlüsselloch hinein.

Aber was sieht sie da! – Ihr geliebter Bräutigam, die Goldnase, [179] frißt in der Kirche Leichen, grade zu der Zeit, wo der Pastor die Toten einsegnet!

Sie stieg wieder in den Wagen und wartete auf die Goldnase. Sie kam auch bald, und die Fahrt ging wieder los, aber diesmal nach Hause.

Unterwegs fragte die Braut den Bräutigam, weshalb er in die Kirchen gegangen sei. Er antwortete, daß er es getan habe, um den Gottesdienst anzuhören. Die Braut konnte aber ihr Geheimnis nicht mehr bei sich behalten und erzählte ihm alles, was sie durchs Schlüsselloch in der Kirche gesehen hatte.

Als der böse Geist das hörte, geriet er in Zorn, weil die Braut sein Verbot übertreten hatte, und erwürgte sie mit schauerlichem Gebrüll.

So endete das Leben des stolzen Mädchens.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 179-180.
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