[246] 75. Das Pferd und der Wolf

Einmal weidete auf einem Felde ein Pferd. Plötzlich kam aus dem Walde der alte Strauchwilhelm herangeschlichen. Als er das Pferd sah, bekam er gleich starke Lust, es zu fressen. Das Pferd aber bat den Wolf: »Lieber Nachbar, laß mich noch dieses Mal leben, denn du siehst ja selbst, daß ich sehr mager bin. Mein Fleisch taugt noch nicht zum Essen. Erlaube mir noch ein paar Tage, mich zu mästen.«

Der Wolf war's zufrieden und ließ das Pferd für dieses Mal ungeschoren. Am nächsten Tage kam der Wolf wieder zurück, ging zum Pferde und fragte: »Bist du jetzt fett?«

Das Pferd aber bat ihn wiederum: »Lieber Strauchwilhelm, ich bin noch gar nicht fett! Laß mich noch ein paar Tage mich mästen!«

Das alte Buschkalb gab auch diesmal nach, sagte aber dabei: »Wart denn bis morgen, länger laß ich dich aber nicht mehr am [246] Leben, denn sonst muß ich Hungers sterben!« Am Abend ging das Pferd nach Hause und erzählte dem Hausherrn, was ihm mit dem Wolfe passiert war. Der Hausherr ließ das Pferd sofort mit neuen scharfen Hufeisen beschlagen und band in seinen Schwanz einen Knoten. So ging das Pferd aufs Feld, um den Wolf zu erwarten.

Der Wolf ließ auch nicht lange auf sich warten, sondern war zeitig am Platz. Er ging zum Pferde und fragte: »Bist du jetzt fett?«

»Jawohl!« antwortete das Pferd.

»Von welchem Ende soll ich anfangen dich zu fressen?« fragte der Wolf.

»Vom Schwanz!« antwortete das Pferd.

Der Wolf biß sofort in den Schwanz hinein, das Pferd aber jagte augenblicklich davon. Da der Schwanz geknotet war, so konnte der Wolf seine Zähne nicht mehr herauskriegen, sondern blieb am Schwanze hängen. Das Pferd aber keilte fortwährend nach hinten aus und schlug das Buschkalb binnen kurzem derart zuschanden, daß es schließlich den Geist aufgab.

Als das Pferd das Haustor erreichte, hockte die Espenwaldwirtin (die Häsin) neben dem Tor. Als sie den toten Wolf am Schwanze des Pferdes sah, da rief sie: »Jetzt habe ich einen Feind weniger, der Strauchwilhelm kann mich nicht mehr plagen!« Vor Freude darüber lachte die Häsin so unbändig, daß ihre Lippe platze, und lief dann in den Wald. Den toten Wolf aber nahm der Bauer vom Pferdeschwanz ab, zog ihm das Fell herunter und machte sich daraus einen warmen Pelz.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 246-247.
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