[248] 77. Warum der Hase eine gespaltene Lippe hat

Einst versammelten sich alle Hasen unter einer großen Kiefer, um Rat zu halten, wie ihr Leben gebessert werden könne. Jeder klagte über seine Not.

»Seht, ihr lieben Hasen!« sagte der allergrößte unter ihnen. »Wir müssen uns alle fürchten, aber niemand fürchtet sich vor uns! Wir müssen die Katzen und Hunde fürchten und wissen nicht, wo wir unsere Nester bauen und wo wir mit unseren Frauen und Kindern leben sollen! Es ist auch nicht zu hoffen, daß unser Leben besser wird. Eher wird es noch schlechter. Jeder Knirps jagt hinter uns her. Wo jemand uns erblickt, da schreit er gleich: ›Ein Hase! Ein Hase!‹ Lieber gehn wir zum See und ertränken uns. Sterben müssen wir ja sowieso!« Alle Hasen waren damit einverstanden. Sie liefen zum See und wollten sich ertränken. Am Ufer des Sees weidete aber eine große Schafherde. Als die Schafe die Hasen herankommen hörten, da erschraken sie so sehr, daß sie Hals über Kopf davonrasten. Der Hirt mit dem Hunde hinterdrein.

[248] Als die Hasen das sahen, blieben sie stehn und brachen in ein Gelächter aus. Sie sahen, daß es doch noch Tiere und Menschen gab, die sich vor ihnen fürchteten. Da lachten sie so sehr, daß ihre Lippen platzten. Und seit der Zeit bis heute sind die Lippen der Hasen gespalten geblieben. – Die Lust, sich zu ertränken, war ihnen aber seit jenem Augenblick ganz vergangen.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 248-249.
Lizenz:
Kategorien: