[143] 46. Der Bär als Richter

Zwischen einigen Tieren, nämlich dem Wolf, dem Fuchs, der Katze und dem Hasen, entstand einmal ein Streit, und sie konnten nicht selber über die Sache einig werden. Deshalb holten sie den Bären herbei, daß er als Richter ihren Streit schlichten sollte. Der Bär kam und fragte: »Worüber habt ihr euch entzweit?« – »Wir stritten uns über die Frage, wie viele Auswege wohl ein jeder von uns hat, um bei Gefahr das Leben retten zu können«, antworteten die andern. – »Nun, wie viele Auswege kennst du?« fragte der Bär zuerst dem Wolf. – »Hundert«, antwortete dieser. »Und du?« fragte der Bär den Fuchs. »Tausend.«[143] – »Kennst du viele?« fragte der Bär jetzt den Hasen. »Ich habe nur meine flinken Läufe«, erwiderte dieser. Zuletzt fragte der Bär die Katze: »Kennst du viele Auswege?« – »Nur einen einzigen«, antwortete die Katze.

Da gedachte der Bär, alle auf die Probe zu stellen, um zu sehen, durch welche Mittel ein jedes in der Stunde der Gefahr sich retten würde. Er warf sich plötzlich auf den Wolf und drückte ihn halbtot. Der Fuchs machte eiligst kehrt, als er sah, wie es dem Wolf erging; der Bär aber erfaßte ihn eben noch am Schwanzende, wovon der Fuchs noch heutigentags am Schwanz einen weißen Fleck hat. Der Hase, der flinke Läufe hatte, ergriff die Flucht und rannte davon. Die Katze kletterte auf einen Baum und sang von oben herab: »Der hundert Auswege kennt, ward eingefangen; der tausend Mittel weiß, ward verstümmelt; das Langbein muß noch immer laufen; der nur einen Ausweg hat, sitzt auf dem Baum und behauptet seinen Platz!« So lang ist's.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 143-144.
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