41. Der Schnappsack

[113] Einst lebten eine Witwe und ihr Sohn, die Tag und Nacht arbeiten mussten, um ihr Leben kärglich zu fristen. – »Mutter«,[113] sprach eines Tages der Sohn, »das kann so nicht fortgehen. Du bist alt, hüte unser Häuschen, während ich, jetzt einundzwanzig Jahre alt, in die Welt hinausziehe, um das Glück zu suchen. Wenn ich reich werde, dann soll es auch dir an nichts fehlen.« – »Lieber Sohn, tue, wie du willst. Hier hast du einen guten Schwarzdornstock, der dir gegen Widriges dienen soll und hier einen Schnappsack, der drei kleine Brotlaibe und eine gefüllte Weinflasche enthält. Ziehe mit Gott.«

Der Junge verabschiedete sich von seiner Mutter und ging seiner Wege. Drei Stunden zog er schon, immer geradeaus dahin, da begegnete er einem alten Krüppel. – »Erbarmen, lieber Freund, um Gottes willen.« – Der junge Mann griff in seinen Schnappsack. »Hier hast du. Iss diesen kleinen Brotlaib und trink dazu aus meiner Flasche.« – »Danke, lieber Freund.« – Der Junge grüsste und zog weiter. Wieder ging er drei Stunden fürbass, da begegnete er einem alten Krüppel. – »Erbarmen, lieber Freund, um Mariens willen.« – Der junge Mann griff in seinen Schnappsack. »Hier hast du. Iss diesen kleinen Brotlaib und trink dazu aus meiner Flasche.« – »Danke, lieber Freund.« – Der Junge grüsste und zog weiter, immer geradeaus. Nach drei Stunden begegnete er abermals einem alten Krüppel. – »Erbarmen, lieber Freund, um des heiligen Apostels Petrus willen.« – Der junge Mann griff in seinen Schnappsack. »Hier hast du. Iss diesen kleinen Brotlaib und trink dazu aus meiner Flasche.« – »Danke, lieber Freund.« – Der junge Mann grüsste und wollte weiterziehen, doch der Krüppel sprach zu ihm: »Du bist mir dreimal an einem Tage beigestanden. Das erstemal aus Liebe zu Gott, das zweitemal aus Liebe zur Jungfrau Maria und das drittemal aus Liebe zum heiligen Apostel Petrus. Das soll dir vergolten werden. Höre mich an. Ich bin der Apostel Petrus, der Himmelspförtner, bin mächtig im Himmel und auf Erden, was ich dir sofort zeigen werde. Gib mir deinen Schnappsack, dass ich ihn segne.« – Der junge Mann kam dem Befehle nach. – »So, es ist geschehen. Alles, was du dir wünschst, das kannst du nun erhalten, wenn du rufst: ›Spring in meinen Schnappsack.‹ Sofort wird das Gewünschte, sei es nun Person oder Sache, in den Schnappsack springen und nur, wenn du es wünschest, frei werden. Lebe wohl, lieber Freund, ich habe dir deine Wohltaten vergolten. Doch noch eins, mache von dem Geschenk einen guten Gebrauch.«[114]

Der junge Mann grüsste und ging weiter. Nach drei Stunden, gerade bei Sonnenuntergang, erreichte er eine grosse Stadt. Er trat in ein grosses Gasthaus ein, wo soeben die Diener das Nachtmahl im Saale richteten und Teller, Brot und Wein auftrugen. Auf den Öfen kochte und sott es, am Feuer schmorte ein dicker Truthahn, der so fett wie ein Mönch war und ein guter Geruch von Gedämpftem durchzog die Zimmer und hätte Tote erwecken können. Der Junge starb beinahe vor Hunger. – »Lieber Wirt, gebt mir um Gotteswillen ein Stück Brot.« – »Schau, dass du weiter kommst, rasch, oder die Hunde werden dich laufen lehren.« – Der Junge lächelte und rief: »Gutes Essen, spring in meinen Schnappsack.« – Sofort sprangen das Brot, die Weinflaschen und das Fleisch in seinen Brotsack. Er setzte sich am Ufer des Flusses nieder, stillte seinen Hunger und Durst, überliess den Rest der Mahlzeit den Bachstelzen, streckte sich auf der Erde aus und schlief ein.

Bei Tagesanbruch zog er weiter und kam nach drei Stunden zur Werkstätte eines Schmiedes, der eben am Amboss mit einem hundert Zentner schweren Hammer Eisen hämmerte. – »Ein Stück Brot, lieber Schmied, um Gottes und Maria willen.« – »Das sollst du haben. Warte ein wenig, meine Frau richtet soeben die Suppe her, dann können wir mitsammen essen.« Während die Frau die Suppe zubereitete, plauderten der Schmied und der Junge miteinander. – »Wem gehört jenes Schloss dort, lieber Schmied?« – »Das gehört der Mutter des Teufels, die noch bösartiger ist als ihr Sohn. Viele Leute gingen in jenes Schloss schon hinein, aber keiner kam mehr heraus. Gehe nicht hin!«

Als er die Suppe gegessen hatte, verabschiedete sich der Junge vom Schmied und dessen Frau und zog weiter. Nach drei Stunden klopfte er ohne Furcht und Zagen an die Türe des schönen Schlosses, das der Mutter des Teufels gehörte. Diese kam heraus. Sie war sieben Klafter hoch, uralt und hässlich wie die Nacht. – »Ein Stück Brot, liebe Mutter des Teufels, um Gottes willen.« – Sie stürzte vor, das Maul weit geöffnet, doch er lachte und rief: »Mutter des Teufels, springe in meinen Schnappsack.« – Sofort sprang sie hinein und er trug sie zum Schmied, wo er den Sack auf den Amboss legte. – »Lieber Schmied, gib mir deinen hundert Zentner schweren Hammer, nimm einen ebensolchen und schlagen wir los.« – »Es soll geschehen. Los!« – Die Mutter des Teufels[115] schrie, dass man sie hundert Meilen weit hörte: »Au, au, au! Ihr zerhaut mir die Knochen. Au, au, au!« – Die zwei Männer schlugen ununterbrochen darauf los. Aber die Mutter des Teufels kann nicht sterben, nur leiden kann sie wie die Christen. Noch immer schrie sie, dass man sie hundert Meilen weit hörte: »Au, au, au! Ihr zerhaut mir ja die Knochen. Au, au, au!« – Als sie genug erduldet hatte, öffnete der Junge den Schnappsack. Die Mutter des Teufels rannte davon und liess sich nie mehr blicken.

Der Junge war nun Herr und Besitzer des schönen Schlosses, das der Mutter des Teufels gehört hatte. Er kam wieder zum Schmied zurück und sprach: »Lieber Freund, du hast mir einen Dienst erwiesen, dafür gebe ich dir hier tausend Pistolen. Diese tausend Dukaten bringe meiner Mutter, die ich schön grüssen lasse. Sie soll sich nichts abgehen lassen, denn ich bin ja jetzt unermesslich reich. Ich werde nun heiraten.«

Der Schmied reiste ab und der junge Mann zog von Jahrmarkt zu Jahrmarkt, von Kirchweih zu Kirchweih, um sich eine Frau zu suchen. Er war prächtig gekleidet und trug beständig seinen Schnappsack mit sich. Einst begegnete er der Tochter eines Grafen, die schön wie der Tag und lauter wie das Gold war. Sogleich verliebte er sich in sie. – »Grüss Gott, liebes Mädchen. Ich bin jung, stark, tapfer und überaus reich. Willst du meine Frau werden?« – »Ich würde dich sehr gerne heiraten, wenn du den Schnappsack nicht umhättest.« – »Spotte nicht über meinen Schnappsack, denn er hat die Kraft, dich zu dem zu zwingen, was ich haben will.« – Sie lächelte. »Lieber Freund, tritt den Wahrheitsbeweis an.« – »Schönes Mädchen, spring in meinen Sack.« – Das Mädchen sprang hinein. – »Lieber Freund, du hast die Wahrheit gesprochen. Mache mich wieder frei.« – »Ich werde es sofort tun, wenn du mir zuerst schwörst, meine Frau zu werden.« – »Lieber Freund, ich schwöre es. Aber mein Vater wird damit nicht einverstanden sein.« – »Das lasse meine Sorge sein.«

Der junge Mann machte die Schöne frei und beide gingen zu ihrem Vater. – »Grüss Gott, lieber Graf. Deine Tochter versprach mir, meine Frau zu werden. Bist du damit einverstanden?« – »Dummkopf, meine Tochter ist nichts für einen Menschen, der wie ein Bettler einen Schnappsack um hat.« – »Graf, springe in den Schnappsack.« – Sofort sprang[116] der Graf hinein. – »Gnade, Gnade, lieber Freund! Befreie mich wieder aus meiner Lage, du sollst meine Tochter zur Frau haben.« – Der junge Mann machte den Grafen frei und drei Tage danach feierte er seine Hochzeit. Sie und ihre zwölf Kinder lebten lange glücklich und zufrieden im Schlosse der Teufelsmutter. Die Frau spendete viel Almosen und er zahlte alles, was er wollte, sehr gut. Wenn man ihm eine Sache nicht geben wollte, so war er rasch fertig: »Spring in meinen Schnappsack.« Das Gewünschte sprang hinein und er bezahlte dann königlich. Nicht wahr, das war nicht schön und edel von ihm?

Oft ging er fischen. Wollte er einen grossen Fang machen, so schrie er nur: »Fische, springt in meinen Schnappsack« und sofort sprangen sie hinein. Aber einmal fiel er dabei in den Fluss und ertrank. Sogleich klopfte er ohne Furcht und Zagen an der Himmelspforte an. – »Wer ist draussen?« rief Petrus. – »Ein Freund. Der Mann mit dem Schnappsack. Lieber Petrus, öffne mir doch rasch.« – »Du bist es, Bösewicht. Schau, dass du weiter kommst. Ich befahl dir doch, von meinem Geschenk einen guten Gebrauch zu machen, du hast es jedoch dazu verwendet, Leuten Dinge, die sie nicht verkaufen wollten, abzunehmen. Zwar bezahltest du sie dann gut, aber dennoch schau, dass du weiter kommst, du Räuber. Ins Paradies kommst du mir nicht!« – So sprach Petrus, doch der Tote lachte nur und rief: »Heiliger Petrus, öffne mir die Pforte.« – Aber Petrus antwortete darauf gar nicht.

Der Tote hielt nun seinen Schnappsack zum Schlüsselloch der Himmelstüre und rief: »Heiliger Petrus, spring in meinen Sack.« – Sofort kam Petrus durchs Schlüsselloch und sprang in den Schnappsack. – »Lieber Petrus, wenn ich nicht mit ins Paradies darf, so lasse ich dich nicht mehr aus.« – Aber Petrus wollte nicht nachgeben und schrie wie ein Besessener: »Schuft! Räuber!« – Infolge dieses Lärms kam unser Herrgott zur Himmelstür. – »Schweig, du Schreier, du machst mich ja taub damit.« – »Lieber Herrgott, ich bin es ja, Petrus. Dieser Schurke hält mich in seinem Schnappsack fest und ich kann ohne seine Erlaubnis nicht heraus. Ich will aber nicht nachgeben, denn dieser Nichtswürdige verdient das Paradies nicht.« – »Lieber Petrus, einmal ist keinmal. Und dann brauche ich einen Türhüter. Schnell, schnell, tretet ein, damit der Lärm aus sei.«


(Gascogne.)

Quelle:
Blümml, Emil Karl: Schnurren und Schwänke des französischen Bauernvolkes. Leipzig: Deutsche Verlagsaktiengesellschaft, 1906, S. 113-117.
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