Crescentia

[82] Wir lesen, daß ein römischer Kaiser eine wunderschöne unde ngelreine Gemahlin hatte, welche er, da er in Amtsgeschäften verreisen mußte, mitsamt seinem Lande seinem Bruder zur Verwahrung übergab. Der Bruder bedrängte sie, durch ihre Schönheit verlockt, mit Versprechungen, Drohungen und Gewalt. Da sie ihn aber verschmähte und sich tapfer gegen ihn wehrte, so verklagte sie der Bruder nach der Rückkehr des Kaisers bei diesem, indem er sein Verbrechen auf sie zu wälzen trachtete. Der Gatte schenkte dem Verleumder ohne weiteres Glauben, mißhandelte die Frau, als sie ihm entgegeneilte, mit Füßen und Fäusten und übergab sie zwei Sklaven, damit sie sie heimlich[82] in den Wald führten und enthaupteten. Diese wollten ihr, durch ihre Schönheit verleitet, gerade Gewalt antun, während sie sich aus Leibeskräften wehrte und die Hilfe der heiligen Jungfrau, der sie ergeben diente, mit lauter Stimme anrief, als ein fremder Edelmann vorüberkam. Er hörte das Geschrei, lief herzu, befreite sie und tötete die Sklaven. Sie selbst aber nahm er mit sich und betraute sie mit den Obliegenheiten einer Hausfrau, indem er ihr seinen Sohn zur Pflege überließ. Unterdessen bedrängte sie der Bruder ihres neuen Herrn. Da sie aber nicht einverstanden war, sondern sich tapfer mit den Fäusten wehrte und ihm blutige Striemen beibrachte, erwürgte dieser, während sie schlief, den neben ihr ruhenden Sohn des Bruders, um die ihm zugefügte Unbill zu rächen. Daraufhin überlieferte sie ihr Herr einigen Schiffern, welche sie in ewige Verbannung führen sollten. Diese wollten sie vergewaltigen und dann ins Meer werfen, setzten sie aber auf ihre Bitte hin auf einer Insel an Land, wo ihr die selige Jungfrau erschien, die sie tröstete und ihr ein gewisses Kraut zeigte, welches die schlimmsten Krankheiten zu heilen vermochte, besonders aber wurden die Aussätzigen durch diese Pflanze geheilt, vorausgesetzt, daß sie ihre Sünden beichteten. Das Gerücht von einer solchen Heilkraft drang bis zu den Ohren ihres Herrn. Er führte seinen Bruder – jenen, der ihr hatte Gewalt antun wollen und das Kind getötet hatte und nun zur Strafe aussätzig geworden war – zu ihr. Sie erkannte beide und sagte, selbst unerkannt, daß es zu einer solchen Heilung zunächst der Beichte des Kranken in Gegenwart seines Bruders bedürfe. Da jener aber das vorher erwähnte Verbrechen nicht erwähnte, so nützte die Medizin nichts. Nun sagte sie vor allem Volke, daß der Kranke bisher eine Sünde verheimlicht habe und daß infolgedessen die Heilung verhindert werde. Da ermahnte ihn der Bruder und beschwur ihn, alles zu gestehen, und jener enthüllte sein Vergehen und wurde geheilt. Als der Kaiser dieses Wunder erfuhr, ließ er sie, da sein Bruder gleichfalls hochgradig aussätzig geworden war, zu sich kommen und bat[83] sie unter großen Ehrungen um die Heilung seines Bruders. Sie entgegnete, daß sie ihn nur dann heilen könne, wenn er seine Schuld vor aller Welt bekenne. Da er anderes gestand, das, was er gegen sie gefehlt hatte, aber verheimlichte, so wurde er nicht eher geheilt, bis er auf das Drängen des Kaisers hin das gegen sie begangene Verbrechen beichtete. Der Kaiser war untröstlich, da er sie nicht erkannte. Als der Bruder geheilt war, berief sie den Kaiser zu sich und besänftigte seinen Zorn gegen jenen. Er aber erkannte sie während der Unterredung an gewissen Zeichen, nahm sie wieder auf, und aller Schmerz wurde in Freude verwandelt. Die Kaiserin wurde später Nonne und diente auf das Ergebenste der seligsten Jungfrau Maria.

Quelle:
Tegethoff, Ernst: Französische Volksmärchen. 2 Bände. Jena: Eugen Diederichs, 1923, S. 82-84.
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