Der König und der Weise

[81] Ein König hatte in seinem Lande einen weisen und reichen Mann wohnen, fand aber keine Gelegenheit, aus ihm Geld herauszupressen. Da richtete er drei Fragen an ihn, die er lösen müsse, wenn er nicht eine gewaltige Summe Geldes zahlen wolle. Die Fragen aber schienen unlösbar zu sein. Die erste war: wo der Mittelpunkt der Erde sei? Die zweite: wieviel Maß Wasser das Meer enthalte? Die dritte: wie groß die Barmherzigkeit Gottes[81] sei? Am bestimmten Tage nun wurde der Weise in Anwesenheit des gesamten Hofes aus dem Kerker, in welchem er gefangen gehalten wurde, herbeigeholt, um sich loszukaufen, wenn er nicht die erwähnten Aufgaben löse. Da stieß er mit dem Stab auf den Boden und sagte: »Hier ist der Mittelpunkt der Welt. Widerlege es, wenn du kannst. Willst du, daß ich das Maß des Meeres ausmesse, so halte die Flüsse und alle Wasser an, damit sie nicht ins Meer dringen, bis ich es ausgemessen und dir die Zahl der Maße gesagt habe. Die dritte Aufgabe werde ich lösen können, wenn du mir deine Gewänder abtrittst, damit ich vom Thronsessel aus meine Antwort gebe.« Hierauf, als er sich auf dem Thronsessel und in königlichem Schmucke befand, sagte er: »So höret und sehet die Erhabenheit von Gottes Erbarmung, denn ich war eben ein Sklave, nun bin ich ein König geworden, eben war ich arm, nun bin ich reich, eben war ich in der Tiefe, nun bin ich erhöht, eben in Kerker und Ketten, nun aber in Freiheit.« So ist der Mittelpunkt der Barmherzigkeit Gottes überall im gegenwärtigen Leben, seiner Gnaden ist keine Zahl und seine Erhabenheit und Allgegenwart äußert sich darin, daß der Sünder aus den Fesseln und Gefängnissen der Sünde durch den Weg der Buße zum Himmelreiche gelangt.

Quelle:
Tegethoff, Ernst: Französische Volksmärchen. 2 Bände. Jena: Eugen Diederichs, 1923, S. 81-82.
Lizenz:
Kategorien: