Der Judenknabe

[99] Die Juden, die überall in der Welt verstreut sind, hatten sich wie in jeder anderen guten Stadt, so auch in Bourges niedergelassen und lebten dort nach ihrem Gesetz. Nun geschah es, daß die schöne Osterzeit nahte, und alle Welt feierte mit Glockentönen und Gesängen die Auferstehung des Herrn. Männer, Frauen und Kinder eilten in freudiger Hast zum Münster und siehe, ein kleiner Judenknabe folgte den Gespielen in das Gotteshaus, wie er ihnen sonst zum Spiele nachlief. Er trat in den hohen Dom, da glänzten die Bilder, gleißend von Gold, da funkelten die Gefäße, da glühten die Kerzen, und Freude ergriff das Büblein, das zuvor nie solches sah. Er tat den anderen Kindern alles nach: bald schlug er sich an die Brust, bald bekreuzte er sich und dann warf er sich nieder in den Staub. Zwischendurch betrachtete er die Bilder und besonders gefiel ihm eines: das war eine hoheitsvolle Frau, die einen lächelnden Knaben an ihrer Brust hielt. Als der Gottesdienst zu Ende war, ging alt und jung zum heiligen Abendmahl, und jeder schlug sich demütig vor dem Sakrament für seine Missetaten an die Brust und flehte aus Herzensgrund um Erbarmen. Das Kind trat mit den andern Christen vor und empfing den Leib des Herrn, ohne zu wissen, was es tat. Dabei kam es ihm vor, als ob das Bild der glorreichen Jungfrau und Mutter aus seinem Rahmen heraustrete und hinter dem Priester hergehend die Speise austeilen helfe.

Indessen machten sich Vater und Mutter auf die Suche[99] nach dem Knaben, überall auf den Straßen fragten sie nach ihm und jammerten, denn sie glaubten, er sei ihnen genommen worden. Während noch der Schmerz ihr Herz zerriß, traten die Christen, das Herz voll Festesfreude, aus dem Gotteshaus. Das Judenbüblein eilte heim und lief seinen Eltern entgegen. Da fragte der Vater mit bösem Blick, wo es gewesen sei, und das Knäblein antwortete furchtsam, es sei mit den andern Kindern im Dom des Herrn gewesen und habe vor dem goldenen Altar mit den andern gespeist. Als der Vater hörte, daß das Kind die Kommunion empfangen habe, da knirschte er vor Wut mit den Zähnen. Ganz in der Nähe stand ein Glasofen mit loderndem Feuer. Der Vater packte den Knaben unter den Armen und warf ihn in die Flammen, dann versperrte er den Ofen von außen, damit der Körper zu Asche werde. Die Mutter des Knäbleins aber raufte vor Schmerz ihre Haare und schrie, so daß das Volk zusammenströmte und nach der Ursache ihres wilden Gebarens fragte. Da erzählte sie den Leuten die Missetat ihres Mannes. Die Leute öffneten den Ofen mit Gewalt und blickten in die flackernde Glut und siehe: der Knabe war heil und unversehrt. Zwar züngelten die Flammen an ihm herauf, von allen Seiten umleckte ihn das Feuer, aber er spielte mit den Funken, als seien es Blümlein auf grüner Au. Da faßte die Menge freudiges Staunen, und sie fragten das Knäblein, wie ihm bei der Marter zumute gewesen sei? »Marter?« erwiderte er, »ich fühlte keine! Als sich der Ofen schloß, da erschien die hehre Frau, die ich dort im Münster bei den Christen geschaut, wie sie dem Priester half, die Speise auszuteilen. Sie stand neben mir und hielt einen lächelnden Knaben an ihrer Brust, mitten im Feuer stand sie, und mit ihrem weiten Mantel wehrte sie die Flammen von mir ab. Ich habe weder Schmerz noch Pein gefühlt. Wie durch einen blühenden Garten schritt sie durch die Glut, wahrhaftig, das muß eine gute und heilige Frau sein!« Als die Leute dieses hörten, da lobten sie Gott und seine glorreiche Mutter. Der alte Jude wurde in den Ofen geworfen und zu Asche verbrannt,[100] wie er es verdient hatte, die Mutter aber ließ sich nebst ihrem Söhnlein taufen, und das gleiche taten viele Juden um der seligsten Jungfrau Maria willen, die den Judenknaben vor dem Feuertod gerettet hatte.

Quelle:
Tegethoff, Ernst: Französische Volksmärchen. 2 Bände. Jena: Eugen Diederichs, 1923, S. 99-101.
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