Die Nonne und der Ritter

[101] Einst lebte in einer Abtei, deren Sakristanin sie war, eine Nonne von heiligmäßigem Wandel; ihr ganzer Sinn war auf gute Werke gerichtet, sie betete fleißig und ehrte Gott und seine Heiligen, vor allem aber verehrte sie Tag und Nacht die Mutter Gottes. Jedesmal, wenn die gewohnte Stunde gekommen war, kniete sie allein vor dem Bilde Unserer lieben Frau nieder und bat sie um Vergebung für ihre Sünden. Der Dienst Mariens war ihre einzige Speise, und um die Dinge dieser Welt sorgte sie sich nicht. Ihre guten Werke würdigten sie so, daß sie eine Freundin Gottes und der heiligen Jungfrau, der sie diente, wurde. So groß war ihre Begnadung, daß die Kranken zu ihr kamen und Genesung fanden, wenn ihre Hand sie berührte. Lange Zeit verharrte sie so im Wohltun, bis der Teufel, der das Gute wo er kann vernichtet, sie versuchte und schließlich zu Fall brachte. Ein Ritter entführte sie aus dem Kloster und verlockte sie durch Versprechungen, daß sie sich ihm ganz zu eigen gab. Sie vergaß ihren Eid und warf ihr Ordensgewand vor dem Bild der Himmelskönigin beiseite, sie floh das Licht und tauchte in die Finsternis. Wie ein Wanderer, dem die Kerze verlöscht, auf nächtlichen Pfaden in den Abgrund stürzt, so wandelte sie die finsteren Wege der Welt, die ins endlose Feuer führen.

Zwei Jahre verharrte sie in sündiger Fleischeslust, aber dann erinnerte sie sich plötzlich ihrer Meisterin und Freundin, der heiligen Jungfrau, welche sie feige verlassen hatte. Sie ward freudenlos und krank, als sie ihrer Untreue gedachte. Es kam ein Tag, da ihr Geliebter sie mit harten Worten tadelte, sie eine entlaufene Nonne schalt und ihr aus Eifersucht ihren Fehl und ihren Wandel vorhielt. Schmerzbewegt erwiderte[101] sie ihm: »Ihr redet wahr! Ich bin noch schlechter, als jemand mich schelten könnte. Nun ist mir recht geschehen, wohl habe ich Tadel verdient, da ich mich von Gott und der erhabenen Herrin abgewendet habe, die mich würdigte ihre Ärztin zu sein. Aber Gott ist nicht tot. Wenn ich mich bemühe, ihm wieder zu dienen und meine Sünden bereue, so kann mir vielleicht Vergebung werden, denn Gott verheißt dem reumütigen Sünder Erbarmen.«

Wie eine Irrsinnige eilte sie von hinnen und lief so lange, bis sie zu ihrer Rechten den Turm einer weißen Abtei gewahrte. Dorthin wandte sie sich und traf zufällig den Abt vor der Tür, der sich, als er sie in Tränen sah, vor ihr erhob. Sie warf sich ihm zu Füßen, er aber richtete sie auf und vergoß Tränen des Mitleids. Weinend bekannte sie ihm ihren Kummer und ihre Schuld. Der gute Abt sah durch ihr Antlitz in ihr Herz und sprach: »Schwester, oft wählt man den unrechten Weg und Gott läßt es zu, daß der strauchelt, den er liebt, damit er sich neu gestärkt erhebe. So müßt auch Ihr Euch erheben und Buße tun, durch die Ihr die Verzeihung Gottes und seiner Mutter finden werdet, die mit freigebiger Hand ihr Erbarmen dem reuigen Sünder spenden.« »Herr, ich bin bereit, meinen armseligen Leib zu geißeln, meinen Leib, der der Urgrund meiner Sünden ist. Ach, wenn es sein könnte, daß ich wieder Gottes Freundin würde, nie wollte ich ihn wieder erzürnen.« »Liebe Freundin, ich werde Euch sagen, wie Ihr Buße tun sollt. Ich befehle Euch im Namen Gottes, daß ihr wieder in Euer Vaterhaus zurückkehrt und dort in Einsamkeit und Buße lebt. Je mehr Ihr aber leidet, desto größere Gnade werdet Ihr erlangen. So sehr sollt Ihr Euch demütigen, daß Ihr Eure Schwestern um Verzeihung bittet.« »Herr, das kann ich nicht! Lieber lasse ich mich zerstückeln! Ich bin eine Edeldame dieses Landes, und mein Vater würde mich töten, wenn er mich wiedersähe. Die Gemeinen würden mit Fingern auf mich weisen und überall würde meine Schandtat bekannt. Gebt mir, Herr, eine Buße, die meinen Leib mehr quält und mir mein Leben härter macht!« »Liebe[102] Freundin, Ihr müßt dies tun, Gott wird Euch trösten und stärken. Eine andere Buße kann ich Euch nicht geben, geht in Frieden, und ich sage Euch, daß sich Eure Missetat zum Guten wenden wird.« »So werde ich Eurem Befehle nach kommen, Herr! Ich lege mein Leben in Gottes und der heiligen Jungfrau Hand. Möge ihr Erbarmen über mir Unwürdigen erscheinen, und sende mir Gott baldigen Tod!« Sie ging und zerraufte sich mit den Händen das Haar. Einsame Wege wanderte sie und sprach weinend ihr Gebet: »Herrin, Königin der Majestät, süße Herrin! Im Tempel deiner Jungfrauschaft weilte Gottes Sohn und wollte sich nicht von dir trennen, denn wie eine süße Blume duftet deine Reinheit. Bewahre meinen Leib und meine Seele, den Leib vor Schmach und Tod, die Seele vor Sünde! Ich bereue meine Schuld und gebe mich ganz in dein Erbarmen. Hab' Gnade, Herrin, dein bin ich ganz und gar!« So ging sie in Verzweiflung und wanderte so lange, bis sie zu einer Hütte kam, die neben dem Kloster, in welchem sie gedient hatte, lag. Eine gute alte Frau, die in der Abtei beschäftigt war, bewohnte das Häuslein. Hier wurde sie aus Nächstenliebe beherbergt, und sie speiste mit der Alten zu Abend. Nach dem Essen plauderten sie über dies und jenes, und schließlich redete die Nonne ohne Schleier ihre Hausfrau folgendermaßen an: »Wirtin, Eure Sakristanin, welche mit so großem Eifer im Kloster diente und die Kranken zu heilen pflegte, wo ist sie? Ich habe viel Übles von ihr reden hören: daß ein Mann sie entführt habe, dem sie sich in sündiger Lust hingab. Um Gottes willen, sagt mir, was Ihr davon wißt!« Die Alte erschrak über das Gehörte und antwortete zornig: »Frau, Ihr seid toll, daß Ihr so von unserer Sakristanin redet, Ihr verleumdet die beste, die heiligste, die meistgeliebte Frau, die je auf Erden lebte. Ihr braucht nicht lange nach ihr zu suchen, denn erst heute habe ich sie gesehen und ihren Segen empfangen da, wo sie ihren Dienst wie eine Heilige und ohne Fehl versieht. Ihr seid nicht bei Sinnen, daß Ihr so von ihr redet. Seht, auf der Straße harren an zwanzig Kranke: Lahme, Blinde und[103] Besessene, die alle den nächsten Tag erwarten, damit sie die Heilige mit einem Zeichen ihrer Hand heilen möge. Schweigt mit Eurer Torheit, denn übel könnte es Euch ergehen, wenn Euch andere Leute hören.« Als die Büßerin solches hörte, verwunderte sie sich sehr und wußte nicht, was sie davon halten solle. Sie verbrachte die Nacht schlaflos in Gedanken, und sobald die Morgenglocke läutete, erhob sie sich, kleidete sich an und ging in das wohlbekannte Kloster. Eine milde Frau öffnete ihr, die Verlorene wich zurück und sprach: »Herrin, um Gott, wer seid Ihr?« »Sagt mir zuerst, liebe Freundin, wer Ihr seid,« fragte die Pförtnerin. »Herrin, mit Schmach gesteh ich's ein. Ich war Sakristanin in diesem Kloster und gut tat ich meine Pflicht, bis der Teufel mich überwand und mich all meiner Schätze beraubt in die Schande stieß. Ich bin die, von der Gott sich abwandte, weil ich um der Sünde des Fleisches willen ihn und seine Mutter verließ. Um meine Meisterin, der ich mich weihte, gräme ich mich am meisten, denn sie berief mich zu großen Ehren. Nun bin ich durch eigene Schuld ihre Widersacherin geworden, und kaum wage ich, sie um Verzeihung anzugehen. Ich bin verflucht und ausgestoßen, von der Liebe Gottes ausgelöscht. Um Gnade und Erbarmung zu erflehen komme ich her, aber schwerlich werde ich für meine rasende Lust Vergebung finden. Herrin, nun habe ich Euch gesagt, wer ich bin. Um des Erlösers willen bitte ich Euch, sagt mir jetzt Euren Namen!« »Ich will ihn dir nennen: ich bin Maria, die Gott gebar. Du hast meine große Güte schlecht vergolten. An deiner Statt habe ich die Zellen gefegt, die Glocken geläutet, die Türen geöffnet, die Lampen entzündet, und jedermann glaubte, du seiest hier. Niemand weiß um deinen Fehltritt, denn dafür, daß du mir so treu gedient, habe ich deine Schmach verhüllt. Ich vergebe dir deine Sinnenlust, aber hüte dich, ein zweites Mal zu sündigen. Nun geh zu meinem Altar, dort findest du dein Ordenskleid, bekleide dich damit und fürchte nichts!« Außer sich vor Freude warf sich die Sünderin zu Füßen der Gottesmutter in den Staub, doch diese entschwebte, und sie[104] hielt nur die Erde umfaßt, die sie küßte, weil die Sohlen der Himmelskönigin sie berührt hatten. Dann wandte sie sich zum Altar, bekleidete sich mit ihrem Nonnengewand und machte sich daran, ihren Dienst zu versehen, wie sie es früher getan hatte. Niemand aber ahnte etwas von dem, was sie verschuldet hatte. Mit Beten, Fasten, Kasteiung und guten Werken brachte sie ihre Jahre dahin, um die versäumte Zeit wieder einzuholen, bis Gott der Herr ihre Seele zu sich in sein Reich nahm.

Quelle:
Tegethoff, Ernst: Französische Volksmärchen. 2 Bände. Jena: Eugen Diederichs, 1923, S. 101-105.
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