Vom Dieb, der sich jedesmal, wenn er zum Stehlen ging, Unserer Frau empfahl

[105] Es war einmal ein Dieb, der eine sonderbare Gewohnheit hatte: sein Sinn war so ganz und gar vom Gedanken an die süße Mutter des Königs der Glorie erfüllt, daß er sich jedesmal, wenn er zum Stehlen ging, in ihre Hut empfahl. Und wenn er sich ihr empfohlen hatte, ging er ruhigen Herzens zum Raub, als ob er dazu beauftragt gewesen wäre. Niemals aber bestahl er die Armen und Bedrängten, vielmehr tat er ihnen Gutes wo er konnte, aus Liebe zur Gottesmutter. Eines Tages wurde er beim Diebstahl überrascht, und jedermann war sich darüber einig, daß er hängen müsse, denn er war weithin berüchtigt. Man legte ihm den Strick um den Hals und knüpfte ihn an den Galgen. Da rief er in seinem Herzen zu Unserer lieben Frau, diese aber, die nie einen der ihrigen vergißt, kam ihm alsbald zu Hilfe. Ihre weißen Hände breitete sie unter seine Füße und hielt ihn so zwei Tage lang, so daß er weder Schmerz noch Qual empfand. Am zweiten Tage kamen seine Henker, um nach ihm zu sehen. Als sie ihn lebendig und gesund fanden, sprachen sie: »Wir haben getrunken, ehe wir diesen Dieb hängten; schlecht haben wir gearbeitet, der Strick mag nicht recht gebunden sein.« Sie ergriffen ihre Schwerter und wollten ihn in die Gurgel stechen, aber sie konnten ihm kein Leids tun, denn die Mutter des Erlösers hielt ihre Hände schützend vor ihn. Da rief der Dieb: »Flieht, flieht, vergebens müht[105] ihr euch, denn wißt, daß meine Herrin, die heilige Maria, mir zu Hilfe kam. Sie ist es, die mich stützt und ihre weiße Hand vor meine Kehle breitet. Die süße Herrin neigt sich zu mir und läßt nicht zu, daß ihr mir wehe tut.« Als die Henker diese Worte hörten, banden sie ihn los und sagten dem Himmelskönig und seiner Mutter für dieses Wunder Dank. Der Sünder aber trat am selbigen Tage als Mönch in ein Kloster und diente von nun an in Demut Unserer lieben Frau.

Quelle:
Tegethoff, Ernst: Französische Volksmärchen. 2 Bände. Jena: Eugen Diederichs, 1923, S. 105-106.
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