Die Himmelfahrt der Betschwester

[121] Eine alte Betschwester aus der Gemeinde Bruz ging jeden Abend in die Kirche, warf sich mit dem Gesicht zu Boden und beendete jedesmal ihr Gebet mit diesen laut gesprochenen Worten: »Mein Gott, mein Gott, wann komme ich ins Paradies?« Der Meßner, welcher die Türen des Gotteshauses schließen mußte, war schon mehrfach gezwungen gewesen, die Alte aufzufordern, sie möge sich entfernen; aber sie tat dies so widerwillig, daß der arme Mann häufig seine Suppe kalt fand, wenn er heimkam. Um sich zu rächen, beschloß er, der Alten einen Streich zu spielen, und zu diesem Zweck setzte er sich mit dem Glöckner ins Einvernehmen. Eines Abends, da die gute Frau wieder einmal sprach: »Mein Gott, mein Gott, wann komme ich ins Paradies?« da antworteten die Männer, welche auf den Kirchturm gestiegen waren: »Morgen, liebe Tochter!« Die Alte erhob sich strahlend vor Freude und lief geschwind ins Dorf, die erfreuliche Nachricht ihren Nachbarinnen mitzuteilen. »Kommt morgen früh zu mir!« sagte sie zu ihnen, »ich will meinen ganzen Hausstand unter euch verteilen!«

Am folgenden Abend begab sie sich in die Kirche; hier hatten der Meßner und die Glöckner am Ende eines Strickes, der im Schiff der Kirche herabhing, einen großen und tiefen Korb befestigt und sie luden die Alte ein, hineinzusteigen. »Soll ich meine Holzschuhe anbehalten?« rief sie. »Ja, behaltet alles an!« erwiderte der liebe Gott. Sie richtete sich bequem in ihrem Korb ein und rief dann: »Zieht auf!« Sogleich vollzog sich die Himmelfahrt, aber sobald die Alte an der Decke des Schiffes angekommen war, ließen die beiden den Strick los und die Gute kam schneller herunter, als sie aufgestiegen war. Wütend stieg sie aus ihrem Korb und sprach: »Ich hätte es niemals geglaubt, aber es gibt schlechte Menschen im Himmel ebenso wie auf Erden.« Und sie kehrte[121] in ihr Dorf zurück, um alles, was sie am Morgen ihren Nachbarinnen gegeben hatte, zurückzuverlangen. Diese aber entgegneten ihr: »Liebe Tochter, hättest im Paradies bleiben sollen; was du uns gegeben hast, gehört uns!«

Quelle:
FR-Märchen Bd.2, S. CXXI121-CXXII122.
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