Der falsche Heilige

[122] Es war einmal ein junger Bursch, der war so faul, daß seine Eltern nicht wußten, was sie mit ihm machen sollten. Er lief immer auf der Gasse herum und wollte durchaus nicht arbeiten. Seine Eltern waren über diesen Faulpelz sehr bekümmert und gaben ihn zu seinem Paten in die Lehre. Dieser war ein Schreiner und hatte die Einrichtung eines im Bau befindlichen Klosters übernommen, welches dem heiligen Eulenspiegel geweiht war. Das Kloster war zur bestimmten Zeit fertig, aber der Schreiner hatte das Standbild seines Patrons, des heiligen Eulenspiegel, noch nicht beendet. »Was tun?« sprach er zu sich in großer Verlegenheit, indem er sich hinter dem Ohr kratzte. Schließlich kam ihm eine Idee. »Du wirst«, sagte er zu seinem Patenkind, »dich in die Nische stellen und ich werde dich wie einen Heiligen kleiden. Dort wirst du ruhig verharren bis zu dem Augenblick, da die Arbeiten besichtigt sind. Sobald man uns bezahlt hat, kannst du gehen.« Der junge Bursch stellte sich in die Nische und alsbald kamen die Oberin und der Kaplan, um die Arbeit in Augenschein zu nehmen. Als sie vor der Nische des heiligen Eulenspiegel angekommen waren, betrachteten sie ihn aufmerksam. »Er ist sehr gut gemacht,« sagte die Oberin, »man könnte glauben, er sei lebendig.« »Nur«, fügte sie hinzu, »scheint mir, daß er auf der einen Seite etwas dicker ist wie auf der andern. Man müßte einmal mit dem Hobel darüberfahren.« Als der Bursch dieses hörte, sprang er behende aus der Nische und nahm die Beine auf den Buckel, während der Kaplan und die Oberin auf die Knie fielen und riefen: »O Wunder! St. Eulenspiegel läuft davon! Kehrt zurück, St. Eulenspiegel, es soll Euch nichts abgehobelt werden!«

Quelle:
FR-Märchen Bd.2, S. CXXII122.
Lizenz:
Kategorien: