Die geschwätzige Frau

[122] Es waren einmal zwei Tagelöhner, welche an der Böschung eines Feldes Ruten schnitten. Sie plauderten über die bösen Zungen der Weiber und der eine von beiden, welcher verheiratet war, sagte zum andern: »Ich möchte wissen, ob meine Frau geschwätzig ist!« Als sie ihre Arbeit beendet hatten, erblickte der Ehemann eine Ginsterstaude, die den Kopf sehr hoch trug, und er sagte zu seinem Gefährten: »Ich werde diesen Ginster köpfen und ich wette, daß morgen die ganze Stadt darüber kopfstehen wird.« »Ich wette, daß das nicht der Fall ist« entgegnete sein Geselle. Der andere schnitt den Kopf des Ginsters mit seiner Sichel ab.

Als er heimkam, sagte seine Frau zu ihm: »Iß deine Suppe, sie ist noch warm!« »Ach!« erwiderte er und nahm eine bekümmerte Miene an, »ich habe keine Lust zu essen.« »Was hast du? Bist du krank?« »Nein.« »Erzähle mir, was dir begegnet ist!« »O nein, du würdest es weitererzählen.« »Ich werde mit keinem Menschen davon reden; pflegen Mann und Frau nicht einander alles zu sagen?« »Nun gut. Ich habe einem den Kopf abgeschlagen!« »Oh, Unseliger!« rief die Frau und fing an zu weinen. Der Mann ging schlafen, ohne seine Suppe gegessen zu haben; aber als er merkte, daß seine Frau eingeschlummert war, erhob er sich ganz leise, schnitt sich ein großes Stück Brot ab und ging in den Garten, um es zu verzehren. Die Frau sah, daß er nicht da war, dachte an das, was er tags zuvor getan hatte, und sprach zu sich selber: »Wahrscheinlich ist er gegangen, sein Messer zu schärfen, um es mir ebenso zu machen.« Sie konnte die ganze Nacht nicht schlafen, und am nächsten Morgen, ehe der Mann an seine Arbeit ging, erschien er ganz traurig und wollte nicht frühstücken.

Damals gab es noch nicht wie heute in jedem Hause Zündhölzer, denn die waren noch nicht erfunden, sondern man mußte in der Frühe Feuer bei seinem Nachbarn entleihen. An diesem Tage kam die Nachbarin und holte in ihrem Holzschuh[123] bei der Frau des Taglöhners etwas Glut. Sie traf jene mit ganz veränderten Zügen und trauriger Miene. »Was hast du?« fragte sie. »Ich habe nichts.« »Doch, man sieht, daß du geweint hast, warum?« »Ach, wenn ich es dir sagte, so würdest du es weitererzählen.« »Nein,« rief die andere, »ist es unter Nachbarinnen der Brauch, daß man ein Geheimnis nicht bewahrt?« »Nun gut,« sagte jene, »mein Mann hat einem den Kopf abgeschlagen.« Die Nachbarin nahm das Feuer in ihrem Holzschuh mit und sprach kein Wort; die Frau schaute ihr nach und bemerkte, daß sie zur Gendarmerie lief. »Ah!« sprach sie zu sich selber, »mein Mann ist verloren!« Und sie begann aus Leibeskräften zu weinen. Kurz darauf kam die Nachbarin mit den Gendarmen zurück. »Ah, Unselige!« rief die Frau des Tagelöhners, »warum hast du das gesagt? Du hattest mir doch versprochen, es geheim zu halten.« »Sie hat recht gehabt,« sprach der Wachtmeister, »man muß die Verbrecher anzeigen; kommt und führt uns zu Eurem Mann!« Sie war genötigt, die Gendarmen zu begleiten, und als sie an die Stelle kamen, wo die beiden arbeiteten, sagte der Wachtmeister zu dem Manne: »Ihr seid derjenige, welcher einem den Kopf abgeschlagen hat?« »Da ist nichts dabei«, entgegnete der Tagelöhner. »Wie, Ihr spürt keine größere Reue? Wo habt Ihr das Verbrechen begangen?« »Schaut in den Straßengraben!« »Ich sehe nichts.« »Seht Ihr nicht den Kopf einer abgehauenen Ginsterpflanze?« »Doch,« antwortete der Gendarm, »ich sehe den Kopf einer Ginsterpflanze.« »Nun gut,« sagte der Mann, »der Ginster ist derjenige, welchem ich den Kopf abgeschlagen habe.« »Oh, Unglücklicher!« riefen die Gendarmen, »wie habt Ihr den Mut, die ganze Stadt wegen einer geköpften Ginsterstaude auf die Beine zu bringen!« »Ich bin es nicht,« versetzte er, »der Euch hat kommen lassen, sondern die Frau, die ihre Zunge nicht hat in Zaum halten können. Wenn ich ein Geheimnis habe, so werde ich es der meinigen nicht erzählen, und ihr alle, die ihr mir zuhört, ich ersuche euch, desgleichen zu tun!«

Quelle:
FR-Märchen Bd.2, S. CXXII122-CXXIV124.
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