[265] 52. Die drei Brüder, die ihre geraubte Schwester suchen.

Es waren einmal drei Brüder, die hatten eine Schwester, und diese wurden von Räubern entführt. Da zogen sie aus, um sie zu suchen, und kamen in eine Gegend, wo Lamien wohnten. Als es Abend wurde, machten sie Feuer an, und in der ersten Nacht wachte der Älteste;[265] da kam eine Lamia ans Feuer, er aber tötete sie, ohne seinen Brüdern etwas davon zu sagen. In der andern Nacht wachte der Mittlere und auf den kamen zwei Lamien los, er aber tötete sie, ohne seinen Brüdern etwas davon zu sagen. In der dritten Nacht wachte der jüngste Bruder und auf den kamen drei Lamien los, er aber tötete sie alle drei. Doch über dieser Arbeit löschte ihm das Feuer aus und er machte sich nun auf, um Feuer zu suchen. Er mußte jedoch lange gehen, bis er in der Ferne ein Feuer sah, und während er darauf losging, begegnete er einer alten Frau und fragte sie, was das für ein Feuer sei. Die antwortete: »das ist das Feuer einer Räuberbande.« Darauf fragte er weiter: »und wer bist denn du?« und die Alte antwortete: »ich bringe der Welt den Tag.« Da sagte er zu ihr: »bleibe so lange hier, bis ich Feuer geholt habe«, und sie entgegnete: »das will ich gerne tun.« Er aber traute ihr nicht und fürchtete, daß sie ihn betrügen würde. Er band sie daher an einen Baum und ging dann auf das Feuer zu. Dort fand er vierzig Räuber um das Feuer liegend, und auf demselben stand ein Kessel, der vierzig Handhaben hatte. Da hob er diesen herunter, nahm sich Feuer und setzte ihn wieder darauf. Aber einer der Räuber sah das mit an; er stieß daher seinen Kameraden mit dem Ellenbogen und sprach: »sieh nur, wie der Mensch den Kessel allein abhebt und wieder aufsetzt, den wir kaum unserer vierzig heben können!« Dieser aber antwortete: »der ist stärker als wir, laß ihn also gewähren.«

Der Jüngling machte sich nun auf den Rückweg, und als er zu der Alten kam, die den Tag macht, band er sie los. Dann ging er dahin, wo seine Brüder schliefen, machte Feuer an und weckte sie; und nachdem es[266] Tag geworden, zogen sie weiter um ihre Schwester zu suchen.

Die Räuber aber kamen zu dem Jüngsten, welcher ihren Kessel allein vom Feuer gehoben hatte, und trugen ihm an, ihr Genosse zu werden, und als er darein willigte, gingen sie zu dem königlichen Schlosse, brachen in die Mauer der Schatzkammer ein Loch und ließen durch dasselbe den Jüngling zuerst hinein. Dieser fand dort ein Schwert, das nahm er in die Hand, stellte sich vor das Loch, und sowie einer von den Dieben den Kopf durch das Loch steckte, schlug er ihm mit dem Schwerte den Kopf ab und zog den Körper zu sich in die Schatzkammer. So tötete er sie alle vierzig. Darauf trank er eine Schale mit Wasser aus, die in der Schatzkammer stand, und schlüpfte durch das Loch hinaus, ohne irgend etwas mitzunehmen.

Am andern Morgen ging der König in die Schatzkammer und staunte nicht wenig, als er die vierzig toten Räuber und von dem Schatze nichts gestohlen fand. Darauf ließ er überall nachforschen, um zu erfahren, wer ihm diesen Dienst erwiesen hätte. Da aber alle seine Bemühungen vergeblich waren, ließ er ein großes Wirtshaus bauen, in welchem alle Reisenden unentgeltlich bewirtet werden sollten, dafür aber erzählen müßten, was sie in ihrem Leben Gutes und Böses verübt hätten. Eines Tages kehrte auch der Jüngling in diesem Wirtshause ein, und als ihn die Wirtsleute nach seinem Lebenslaufe fragten, erzählte er ihnen alles, was er erlebt und vollbracht hatte, und dabei kam er auch auf die vierzig Räuber zu sprechen, die er in dem Schatzhause des Königs umgebracht, und die Schale voll Wasser, die er dort getrunken hatte.

Da führten ihn jene vor den König, der fragte ihn[267] selbst darüber aus, und als er fand, daß der Jüngling die vierzig erschlagen habe, machte er ihn zu seinem Schwiegersohne und verheirattete dessen Brüder an seine Nichten, und so lebten sie herrlich und in Freuden.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 265-268.
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