[297] 59. Lügenwette.

Es war einmal ein König, der hatte drei Söhne, aber kein Vermögen, und als er starb, hinterließ er ihnen weiter nichts als sein Roß und dessen Sattelzeug. Wie nun die Söhne mit einander abteilten, erhielt der älteste den Zaum, der mittlere den Sattel und der jüngste das Roß.[297]

Darauf ging der Älteste in eine andere Stadt, um seinen Zaum zu verkaufen und von dem Erlöse Lebensmittel anzuschaffen. Dort ging er in den Straßen auf und ab und rief seinen Zaum zum Verkauf aus, aber Niemand wollte ihn kaufen. Endlich rief dem Prinzen ein Bartloser zu, er solle zu ihm ins Haus kommen, und nachdem jener eingetreten, bot er ihm eine Wette an: wer am besten lügen könne, und der Fremde solle seinen Zaum gegen das Haus des Bartlosen einsetzen. Nachdem nun die Wette geschlossen war, begann der Königssohn einen Haufen voll Lügen zu erzählen, und als ihm nichts mehr einfiel, fragte ihn der Bartlose: »bist du nun fertig? weißt du nichts mehr?« und jener sagte: »nein, nun ist die Reihe an dir.« Da fing der Bartlose an und sprach: »Ich hatte einmal einen Esel, der fraß so viel Kürbisse, daß er davon barst, und es dauerte nicht lange, so wuchs aus seinem Bauche eine Kürbispflanze, und wuchs so lange in die Höhe, bis sie zum Himmel reichte. Sie trieb aber an ihrem Stengel eine solche Masse Knoten, daß ich daran in den Himmel hinauf und wieder herunter steigen konnte.« Darauf fragte er den Königssohn: »nun sage, ob du mich im Lügen übertroffen hast, oder ich dich?« und jener sprach: »du hast gewonnen«, gab ihm den Zaum und ging seiner Wege.

Darauf machte sich der mittlere Königssohn auf, um seinen Sattel zu verkaufen, ging damit in dieselbe Stadt, und als er vor dem Hause des Bartlosen vorbeikam, rief ihn dieser zu sich, schloß mit ihm dieselbe Wette und gewann ihm seinen Sattel ab.

Endlich ging auch der Jüngste in jene Stadt, um sein Pferd zu verkaufen, und als er damit vor dem Hause des Bartlosen vorüberritt, rief ihn der hinauf und bot[298] ihm dieselbe Wette an, wie er sie mit seinen beiden Brüdern gemacht hatte. »Gut«, antwortete der Jüngste, »du mußt aber anfangen.« Da fing der Bartlose an und erzählte die Geschichte mit dem Kürbis, und als er fertig war, fragte der Königssohn: »sind das alle deine Lügen?« und der Bartlose erwiderte: »ja, nun fang du an.«

Da begann der Prinz und sprach: »Als ich geboren wurde, hatte ich keine Mutter, und ich war damals grade 110 Jahre alt, meine Mutter aber hundert. Als ich hierher ging, kam ich an einem Brunnen vorüber, und als ich mich bückte, um hineinzusehen, fiel mir der Kopf hinunter, ohne daß ich es merkte. Wie ich nun weiter zog, sah ich zwei Pilgrimme unter einem Blatte Farrenkraut sitzen, die mit einander rechneten, und während ich an ihnen vorüberging, sagte der eine zum andern: ›du sieh einmal, da geht einer, der hat keinen Kopf.‹ Da griff ich nach meinem Kopfe, und merkte erst, daß er in den Brunnen gefallen war. Ich ging also zum Brunnen zurück und sah, wie ein Fuchs meinen Kopf fraß.« Da rief der Bartlose: »halte ein, du hast gewonnen; ich habe viele überwunden, aber an dir fand ich meinen Meister.« Darauf ging der Bartlose aus dem Hause und der Königssohn wohnte fortan darin als in seinem Eigentum.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 297-299.
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