[299] 60. Die Sehergabe.

Es war einmal eine alte Frau, die war so böse gegen ihre junge Schwiegertochter, daß diese sich nicht satt zu essen traute. So oft sie also Brot knetete, versteckte sie hinter den großen Fruchtkorb ein Stückchen Teig,[299] um es zu backen und zu essen, wenn ihre Schwiegermutter einmal ausginge. Da die Alte aber niemals ausging, so sammelte sich nach und nach ein ganzer Sack voll Brotteig an. Eines Nachts erschien der Frau ein Engel des Herrn im Traume und sprach zu ihr: »der Brotteig, den du hinter dem Fruchtkorb versteckt hast, ist in Weihrauch verwandelt. Stehe also morgen früh auf, und wenn deine Schwiegermutter weggegangen ist, so fülle allen Weihrauch in einen Sack und trage ihn auf jenen Berg und verbrenne ihn dort.«

Am andern Morgen tat die Frau, was ihr der Engel geheißen, trug den Weihrauch auf den Berg und steckte ihn dort an. Als nun der Rauch davon zum Himmel stieg, da sprach der Herr Jesus zu einem Engel: »gehe hin und sieh einmal nach, wer dieses gute Werk tut«, und als der Engel vom Himmel kam, fand er die Frau, wie sie das Feuer schürte und Weihrauch hineinwarf. Da fragte er sie: »wie sollen wir dir das Gute vergelten, das du uns erweisest?« und sie antwortete: »ich bitte dich nur, mir die Gabe zu verleihen, daß, wenn Jemand stirbt, ich sehen kann, was der Engel mit seiner Seele anfängt.« »Gut«, sprach der Engel, »dir soll diese Gabe zu Teil werden, doch hüte dich wohl, sie irgend jemand zu offenbaren, denn sonst stirbst du in demselben Augenblicke.«

Darauf ging die Frau nach Hause und tat ihre Arbeit, wie sie es gewohnt war. Nach einigen Tagen starb ein junger Mann in ihrer Nachbarschaft. Sie ging also hin und erblickte den Charon, wie er sich bemühte, dem Toten die Seele mit Gewalt zu nehmen, und wie sich diese aus allen Kräften dagegen sträubte. Darüber betrübte sie sich so sehr, daß sie sich über den Sterbenden beugte und zu weinen und zu schluchzen begann. Da[300] kam auch ihre Schwiegermutter und sah, wie sie so über dem Sterbenden weinte, ging nach Hause und sagte zu ihrem Sohne, was sie gesehen habe, und daß seine Frau den Sterbenden zum Geliebten gehabt haben müsse. Als nun die Frau nach Hause kam, fragte sie der Mann, warum sie so sehr über dem Haupte jenes Sterbenden geweint habe. Der sei doch nicht ihr Verwandter, er müsse also ihr Geliebter gewesen sein. Da erwiderte die Frau, daß sie nur deßwegen über ihn geweint habe, weil sie gewußt hätte, daß er sterben müsse. Er aber wollte das nicht glauben und quälte sie so lange, bis sie sagte: »höre, lieber Mann, wenn du es durchaus wissen willst, warum ich geweint habe, so schicke hin und lasse vorher mein Grab graben.« Da ließ der Mann das Grab graben, und als es fertig war, kam er zurück und sagte es seiner Frau. Nun begann die Frau und erzählte ihm alles von Anfang an, wie sie den Teig versteckt, und wie dieser zu Weihrauch geworden, wie sie ihn auf dem Berge verbrannt, und wie sie zum Lohne dafür von dem Engel die Gabe empfangen habe, zu sehen, was aus den Menschen wird, wenn sie sterben, und wie sie nun sterben müsse, weil sie dies verraten habe. Kaum hatte sie das gesagt, so starb sie auch, und der Mann ging hin und begrub sie in dem Grabe, das schon fertig war.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 299-301.
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