I. Wesen des Märchens.

[9] Was ist ein Märchen? – Wenn der Verfasser diese Frage seinen Lesern und Leserinnen vorlegte, so dürfte die Antwort der Mehrzahl wohl immer noch dahin lauten: Märchen sind wunderliche Erzählungen, wie sie sich Mütter und Wärterinnen erdenken, um damit die Kinder zu unterhalten, und in denen Feen und Hexen, Riesen und Zwerge, Ungeheuer und sprechende Tiere ihren Spuk treiben. Es sind leichte, regellose Machwerke einer spielenden Einbildungskraft. Ein jeder kann dergleichen machen, welcher diese Kraft besitzt. Wenn sie aber gut erzählt werden, so können wohl auch Erwachsene daran Gefallen finden.

Diesem Leserkreise dürfte es daher wohl nicht uninteressant sein, zu erfahren, daß ihrer Ansicht vom Märchen sich bereits seit geraumer Zeit in der Wissenschaft eine weit tiefergreifende gegenübergestellt hat, welche in dem Märchen nur eine besondere Form der alten Götter- und Heldensage erblickt und in ihm sogar die Urgedanken des Menschengeschlechtes sucht.

Seitdem nämlich die Gebrüder Grimm das deutsche Märchen nicht nur zu sammeln, sondern auch einer wissenschaftlichen Prüfung zu unterwerfen und mit den Märchen anderer Völker zu vergleichen begannen, auch in dieser Richtung zahlreiche Nachfolger fanden, hat es sich herausgestellt, daß in diesen unscheinbaren Erzählungen eine Masse von Zügen erhalten sei, welche mit den sogenannten Mythen der hellenischen und germanischen Sagkreise[9] übereinstimmen, und daß andernteils bei den verschiedensten Völkern dieselben Märchen erzählt würden. Wilhelm Grimm1 spricht sich über die mythischen Grundbestandteile der Märchen folgendermaßen aus: »Gemeinsam allen Märchen sind die Überreste eines in die älteste Zeit hinaufreichenden Glaubens, der sich in bildlicher Auffassung übersinnlicher Dinge ausspricht. Das Mythische gleicht kleinen Stückchen eines gesprungenen Edelsteins, die auf dem von Gras und Blumen bewachsenen Boden zerstreut liegen und nur von dem schärfer blickenden Auge entdeckt werden. Die Bedeutung davon ist längst verloren, aber sie wird noch empfunden und gibt dem Märchen seinen Gehalt, während es zugleich die natürliche Lust am Wunderbaren befriedigt. Niemals sind sie bloßes Farbenspiel inhaltsloser Phantasie. Das Mythische dehnt sich aus, je weiter wir zurückgehen, ja es scheint den einzigen Inhalt der ältesten Dichtung ausgemacht zu haben. Wir sehen, wie diese, getragen von der Erhabenheit ihres Gegenstandes, und unbesorgt um Einklang mit der Wirklichkeit, wenn sie die geheimnisreichen und furchtbaren Naturkräfte schildert, auch das Unglaubliche, das Greuelhafte und Entsetzliche nicht abweist.«

Die zwischen den Märchen verschiedener Völker waltende Übereinstimmung führt er auf doppelte Quellen zurück: »Die Übereinstimmung zwischen Märchen durch Zeit und Entfernung weit getrennter, nicht minder als nahe aneinander grenzender Völker beruht teils in der ihnen zugrunde liegenden Idee und der Darstellung bestimmter Charaktere, teils in der besonderen Verflechtung und Lösung der Verhältnisse. Es gibt aber Zustände,[10] die so einfach und natürlich sind, daß sie überall wiederkehren, wie es Gedanken gibt, die sich wie von selbst einfinden; es konnten sich daher in den verschiedensten Ländern dieselben oder doch sehr ähnliche Märchen unabhängig voneinander erzeugen: sie sind den einzelnen Wörtern vergleichbar, welche auch nicht verwandte Sprachen durch Nachahmung der Naturlaute mit geringer Abweichung oder auch ganz übereinstimmend hervorbringen. Man begegnet Märchen dieser Art, wo man die Übereinstimmung als Zufall betrachten kann, aber in den meisten Fällen wird der gemeinsame Grundgedanke durch die besondere, oft unerwartete, ja eigensinnige Ausführung eine Gestalt gewonnen haben, wel che die Annahme einer bloß scheinbaren Verwandtschaft nicht zuläßt.«2

Die Frage, ob solche unbestreitbare Verwandtschaft durch die Annahme von Entlehnungen erklärt werden müsse, oder ob sie in der gemeinsamen Abstammung von ein und demselben Stamme ihren Grund habe, beantwortet er dahin, daß die erstere als Ausnahme, die letztere als Regel zu betrachten sei. »Ich leugne nicht die Möglichkeit, in einzelnen Fällen nicht die Wahrscheinlichkeit des Übergangs eines Märchens von einem Volke zum andern, das dann auf fremdem Boden wurzelt. – – – Aber mit einzelnen Ausnahmen erklärt man noch nicht den großen Umfang und die weite Verbreitung des gemeinsamen Besitzes: tauchen nicht dieselben Märchen an den entferntesten Orten wieder auf, wie eine Quelle an weit abliegenden Stellen wieder durchbricht?«3[11]

In demselben Sinne äußert sich Jakob Grimm in seiner Vorrede zur deutschen Übersetzung von Wuks Volksmärchen der Serben. S. VI: »Durch vielfache, nicht nur in Deutschland selbst, sondern auch in Norwegen, Schweden und in der Walachei, neuerdings auch in Albanien, Litauen und Finnland veranstaltete Märchensammlungen – – ist der Wahn beseitigt worden, als beruhen diese Stoffe auf läppischen, der Betrachtung unwürdigen Erdichtungen, da sie vielmehr für den Niederschlag uralter, wenn auch umgestalteter und zerbröckelter Mythen zu gelten haben, die von Volk zu Volk, jedem sich anschmiegend, fortgetragen, wichtigen Aufschluß darbieten können über die Verwandtschaft zahlloser Sagengebilde und Fabeln, welche Europa unter sich und noch mit Asien gemein hat. – Nicht auf dem Wege einseitiger und willkürlicher Erborgungen ist diese Gemeinschaft zu verstehn, sie trägt den Eindruck und das Gepräge wunderbarer Berührungen und Nachklänge an sich, wie sich ähnliche in der Geschichte der Sprache und Poesie darbieten, deren Geheimnis erst allmählich durch fortgesetzte, jetzt kaum begonnene Untersuchungen wird besser enthüllt werden.«

In der Vorrede zu Liebrechts Übersetzung des Pentamerone S. VIII gibt Grimm sein Urteil über die Natur des Märchens in folgender Weise ab: »Gegenwärtig bedarf es keiner Entschuldigung dafür, daß diesen merkwürdigen Überlieferungen aller Ernst und alle Genauigkeit des Forschens und Untersuchens zugewandt werde, die wir der Sprache und den Liedern des Volks endlich überhaupt wieder angedeihen lassen. Sie mögen fortfahren, wie sie es lange Zeit hindurch unvermerkt im stillen getan haben, zu erheitern und zu unterhalten, allein sie dürfen jetzt zugleich wissenschaftlichen Wert in Anspruch nehmen, der ihnen viel weitere und allgemeinere[12] Anerkennung sichert. Sie sind, wie sich immer unzweifelhafter herausstellt, die wunderbaren letzten Nachklänge uralter Mythen, die über ganz Europa hin Wurzel geschlagen haben, und geben reichhaltigen, um so unerwarteteren Aufschluß über verschüttet geglaubte Gänge und Verwandtschaften der Fabel insgemein. – – Man lasse fahren den Wahn, sie seien an irgendeiner begünstigten Stelle aufgewachsen und von da erst auf äußerlich nachweisbarem Weg oder Pfad in die Ferne getragen worden. – – Wie zwischen den Sprachen aller europäischen Völker überall größere oder geringere Berührung waltet, so schlägt auch ein allgemeiner Grundlaut dieser epischen und mythischen Elemente an, die gleichwohl jedem Volke auch in eigentümlicher Besonderheit werden dürfen, und man muß es geständig sein, daß ihre Einstimmung, wie ihre Vielgestaltigkeit der Forschung gleichen Vorschub leistet.«

Über die Verwandtschaftsstufen der Märchen endlich spricht sich Wilhelm Grimm mit Bezugnahme auf das deutsche folgendermaßen aus: »Man wird fragen, wo die äußeren Grenzen des Gemeinsamen bei den Märchen beginnen und wie die Grade der Verwandtschaft sich abstufen. Die Grenze wird bezeichnet durch den großen Volksstamm, den man den indogermanischen zu nennen pflegt, und die Verwandtschaft zieht sich in immer engeren Ringen um die Wohnsitze der Deutschen, etwa in demselben Verhältnis, in welchem wir in den Sprachen der einzelnen dazugehörigen Völker Gemeinsames und Besonderes entdecken. Findet man bei den Arabern einige mit den deutschen verwandte Märchen, so läßt sich dies aus der Abstammung der Tausendundeinen Nacht, wo sie vorkommen, aus indischer Quelle erklären, die Schlegel mit Recht behauptet hat.«4[13]

Von diesen Grundlagen ausgehend hat sich in der Märchenkunde bereits die Ansicht eingebürgert, daß der Inhalt der Märchen sich in nichts von dem der alten Götter- und Heldensage unterscheide, daß der eine ebenso mythisch sei als der andere, und daher der eine dem andern zur Ergänzung dienen könne. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Sagklassen beschränkt sich hiernach auf deren Überlieferungsform, und diese Verschiedenheit der Form erklärt sich natürlich aus dem Entwicklungsgange der Sagen überhaupt.

Dieser Ansicht zufolge ist der Mensch unausgesetzt bestrebt, sich seine Sagen immer begreiflicher zu machen, indem er sie sich immer mehr und mehr versinnlicht und mehr seinen eigenen Verhältnissen anpaßt; steigende Versinnlichung ist daher das allgemeine Entwicklungsgesetz für alle Sage. Vermöge dieses Gesetzes nehmen die früher nur roh personifizierten Naturkräfte immer menschenähnlichere Formen an und kann es im Laufe der Entwicklung geschehn, daß die menschenähnlich gedachten Götter sich mehr oder weniger von der Naturkraft loslösen, aus der sie hervorgegangen sind.5

Derselbe Versinnlichungstrieb zieht den menschlich gedachten Gott auf die zwischen den Menschen und Göttern stehende Stufe des Helden herab und rückt ihn dadurch den menschlichen Verhältnissen um so viel näher. Aber selbst diese Stufe genügt jenem Triebe noch nicht; er fühlt sich erst dann befriedigt, wenn er seine Helden den sterblichen Menschen gleichgestellt und ihnen höchstens noch ein und die andere höhere Gabe übriggelassen, an die Stelle der waltenden höheren Götter aber die dem[14] Menschen zunächststehende niedere Dämonenwelt gesetzt hat und diese statt jener in die menschlichen Verhältnisse bestimmend eingreifen läßt. Diese letzte und jüngste Sagform ist die des Märchens.6

Das Märchen ist mithin ein auf seiner letzten Entwicklungsstufe angekommener Mythus. Der nächste Entwicklungsschritt ist dann die völlige Ausmerzung alles Wunderbaren und die Verwandlung der Sage oder des Märchens in die Erzählung eines rein menschlichen Herganges. Hier sind dann zwei Fälle möglich. Wenn die Sage nach dem Verluste aller ihrer wunderbaren Züge[15] durch die ihr eigentümliche Verwicklung die Einbildungskraft noch immer zu fesseln vermag, so kann sie in dem Kreise der interessanten Erzählungen oder Novellen Aufahme finden, welche jedes Volk in größerer oder kleinerer Anzahl besitzt und von welchen sich dann die entkleidete Sage in nichts unterscheidet.

Oder die Sage erhält durch ihre völlige Entkleidung das Ansehn eines einfachen geschichtlichen Ereignisses; dann müßte sie in dieser Form rasch aus der mündlichen Überlieferung absterben, weil ihr dann der Kitt des Wunders und der Gläubigkeit fehlt, welcher allein die Sage für die Dauer übertragungsfähig macht. Denn die menschliche Überlieferungskraft ist, wie wir anderwärts7 nachzuweisen versuchten, für rein geschichtliche Hergänge ebenso schwach als beschränkt. Wir möchten daher überhaupt bezweifeln, ob die angegebene letzte Entwicklungsform zu den Naturformen der Sage zu rechnen sei, und sie lieber als Kunstform betrachten, welche sich aus dem gelehrten Bestreben entwickelte, die Sage in Geschichte zu verwandeln, indem man sie aller ihrer vermeintlich später angedichteten Wunderzutaten entkleidete und sie dadurch auf ihre geschichtliche Urform zurückzuführen vermeinte.

Das Verfahren des Hellenen Euhemeros bei seiner Behandlung hellenischer Göttersagen und des Isländers Snorre Sturleson in seiner Heimskringla folgt daher an sich zwar dem natürlichen Entwicklungsgange der Sage, aber es führt zu einem falschen Ergebnis, wenn nun der von jedem Wunder entkleidete Sagstoff als Geschichte betrachtet wird, weil derselbe an sich nichts anderes als gläubige Naturanschauung, also nur Erdachtes, nichts Geschehenes, sein kann.[16]

Euhemeros und seine Geistesverwandten gingen bei ihrem Verfahren von der Ansicht einer umgekehrten Entwicklung der Sage aus, durch welche ihr Stoff dem Menschen und seinen Verhältnissen mehr und mehr entfremdet wird und sich aus dem verehrten Verstorbenen ein früher noch nicht vorhandener Gott hervorbildet.

Nach unserer Ansicht von dem Wesen der Sage ist aber eine solche Entwicklung derselben in aufsteigender Richtung unmöglich; wir erblicken vielmehr in solchen Vergötterungen oder Verheldungen verstorbener Persönlichkeiten nur die folgerichtige Fortsetzung des Strebens der Sage nach Versinnlichung. Denn welcher Schritt bliebe dieser Richtung noch übrig, nachdem der Gott dem menschlichen Gattungsbegriff anbequemt, nachdem er vollkommen anthropomorphisiert worden ist, als ihn in einem hierzu für tauglich erkannten menschlichen Individuum zu individualisieren oder wiederzugebären? Wir sehen diesen Trieb bis in die spätesten Zeiten wirksam; denn wenn z.B. nach dem noch lebendigen Volksglauben Friedrich der Rotbart und Karl V. in Bergen schlummern, um aus ihnen zu gegebener Zeit in die Welt zurückzukehren, so sind sie bekanntlich nichts anderes als Wiedergeburten des altdeutschen Gottes Wodan.

Sobald aber die Sage ihren Stoff auf eine geschichtliche Persönlichkeit frisch ablagert, verhält sie sich abweisend gegen deren geschichtliche Erlebnisse und verweigert jede Verbindung ihres Stoffes mit denselben. Besonders belehrend ist in dieser Hinsicht die Vergleichung des sagenhaften Dietrich von Bern mit dem geschichtlichen Westgotenkönig Theodorich.8[17]

Dieser Ablagerung des alten Sagstoffes auf geschichtliche Persönlichkeiten entspricht in räumlicher Hinsicht die Neusiedlung desselben auf bestimmten Örtlichkeiten. Denn wir vermöchten nur durch die Andauer des Versinnlichungstriebes der Sage die Erscheinung zu erklären, daß eine uns auch als schwebender Göttermythus erhaltene Sage an hundert verschiedenen Orten die Gestalt der Ortssage angenommen hat. –

Wir haben hiermit den Unterschied zwischen dem Märchen und der Ortssage angegeben. Sobald sich das schwebende Märchen an einer bestimmten Stelle niederläßt, wird es zur Ortssage. In unserem Norden ist eine solche Niederlassung oder Vergeschichtlichung dem Märchen oder der Sage nicht günstig, denn die seßhaft gewordenen magerten ab und schrumpften bis zum Gerippe zusammen. Anders war dies bei der Heldensage, namentlich der hellenischen, wo sie aus der Benamsung ihrer Figuren und ihrer Niederlassung an bestimmter Örtlichkeit neues Leben gezogen zu haben scheint. Wenn der Leser nach den Belegen zu dieser Ansicht fragt, so brauchen wir ihn nur beispielsweise an die unten folgenden Danae-, Andromeden- und Jasonsformeln zu verweisen; er vergleiche die unter dieselben gestellten Heldensagen und Märchen miteinander und frage sich dann, ob zwischen dem Stoff der beiden Gattungen noch ein anderes Unterscheidungszeichen möglich sei, als die Benamsung der Gestalten und deren Verbindung mit bestimmten Örtlichkeiten.

Wenn wir aber den Unterschied zwischen Sage und Märchen9 aufheben, so müssen wir das letztere um so[18] schärfer von einer anderen Erzählungsgattung trennen, welche in denselben Kreisen Eingang gefunden, in welchen das Märchen heimisch ist, und daher häufig mit diesem verwechselt wird; es ist dies der Schwank.10

Schwank und Märchen sind zwei grundverschiedene Gattungen der Erzählung. Das Märchen berichtet stets einen geschlossenen Hergang, in welchem der Knoten geschürzt und wieder gelöst wird; dieses Schürzen und Lösen bildet sein Wesen, man könnte es daher ein organisches Gebilde nennen. Der Inhalt des wahren Märchens ist stets ein ernster; komische Züge finden sich nur als seltenes Beiwerk. Seine Absicht geht auf die Hebung der Stimmung, und es erreicht sie in der Regel trotz seiner kindlichen Unbehülflichkeit stets bei Erwachsenen, welche für solche Hebung empfänglich sind. Daher hält es auch stets zu der sittlichen Weltordnung, indem es das Böse bestrafen und das Gute belohnen läßt. Gleichwohl verdankt es seine Entstehung keineswegs der Absicht, die sittliche Wahrheit in einem Beispiel darzustellen, und seine Helden und Heldinnen begehn gar manche Verstöße gegen das Sittengesetz, ohne daß das Märchen daran Anstoß nähme. Das Märchen schließt nur diesem Gesetze entsprechend, weil es keinen anderen Ausgang kennt, weil es die sittliche Weltordnung für selbstverständlich hält.

Der Schwank geht nicht auf die Hebung, sondern auf[19] die Erheiterung der Stimmung, sein Feld ist nicht das der reinen Einbildungskraft, sondern des Witzes und des Lächerlichen. Bei dem Schwanke ist daher die Erzählung an sich nur Beiwerk, selbst wenn sie mehrere Glieder enthalten, selbst wenn sie das Wunder zu Hilfe rufen sollte. Daher kommt auch beim Schlusse die sittliche Weltordnung häufig zu kurz.

Schwänke werden noch heutzutage erfunden; die Entstehung der Märchen fällt, wie wir unten sehen werden, in die Urzeit der Menschheit. Doch hat der alte Schwank mit der Sage die Neigung gemein, sich an geeignete Stellen frisch anzusiedeln oder auf geeignete Persönlichkeiten abzulagern. Das heutige Märchen zeigt diese Neigung nicht, Zeit und Ort, selbst Figuren-Namen sind ihm gleichgültig.

Der Schwank, aber gewiß nicht das Märchen, ist eine beliebte Unterhaltung der Männer aller Klassen, welche mehr für Erheiterung als für Hebung der Stimmung empfänglich sind; daher spricht die Wahrscheinlichkeit für dessen Verbreitung durch den Verkehr; denn wo immer Männer zusammenkommen, ist auch der Schwank ein beliebter Gast, und um so willkommener, je weniger sonstige geistige Berührungspunkte sich den Versammelten bieten. Dagegen blickt der Mann in der Regel mit souveräner Verachtung auf das Märchen herab, weil er für den Reiz, den es bietet, unempfänglich ist.

Nur da, wo eine Mehrheit von Männern durch langes Zusammenleben die Formen der Familie annimmt, also in Kasernen, Klöstern und auf Schiffen, wird es auch hie und da dem Märchen gestattet, dem engbefreundeten Kreise die Zeit zu vertreiben; sobald aber ein Fremder herzutritt, schämt man sich dieses unwürdigen Verkehres und das Märchen verstummt.[20]

Sein Bereich bleibt mithin auf den Teil der Menschheit beschränkt, bei welchem die Einbildungskraft die übrigen Seelentätigkeiten überwiegt und in den daher auch nur wenige, und gewiß nicht die geistreichsten Schwänke, eintreten; es ist dies die stille, seßhafte Frauen- und Kinderwelt. Mithin spricht die Wahrscheinlichkeit gegen dessen Verbreitung durch den Verkehr, welchem, je weiter wir in der Geschichte aufsteigen, die Frauen- und Kinderwelt um so unzugänglicher wird.

Von diesem Standpunkte können wir daher den Schluß nicht als zwingend betrachten, daß die weite Verbreitung der Märchen kein Beweis für ihr Uralter sei, weil Schwänke, die doch keine Überreste alter Mythen sein können, eine gleichweite Verbreitung haben. Denn Märchen und Schwänke sind ihrer Natur nach grundverschieden, und die der ersteren widerstrebt, die der letzteren erleichtert deren Verbreitung durch den Verkehr.

Der Verfasser steht mithin auf der Seite derjenigen, welche das indogermanische Volksmärchen in Europa als einen Teil des urarischen Geistesschatzes betrachten, welchen die einzelnen Stämme bei ihrer Trennung von dem gemeinsamen Mutterstamme in ihr Sonderdasein mit hinübernahmen und dessen Formen gleich denen ihrer Sprachen eine solche Zähigkeit bewährten, daß sich an ihnen die Urverwandtschaft mit den indischen ebenso deutlich erkennen läßt, wie an den Sprachformen.

Dieser Annahme stellt sich nun das gewichtige Bedenken entgegen, daß die ungeheuren Forschungen, welche Benfey auf diesem Gebiete angestellt hat, diesen Forscher zu dem Ergebnisse führten, daß der Stock der indogermanischen Erzählungen und Märchen sich als ursprünglich indisch erweise und sich von dort in geschichtlicher Zeit allmählich über Europa verbreitet habe.[21] Über diese Verbreitung drückt er sich folgendermaßen aus.11

Was die Zeit der Verbreitung betrifft, so sind etwa vor dem 10. Jahrhundert n. Chr. wohl nur verhältnismäßig wenige nach Europa gekommen und zwar – außer den durch die Übersetzung des Grundwerkes der Pantschatantra oder Kalilah und Dimnah bekanntgewordenen – wohl nur durch mündliche Überlieferung, die im Zusammentreffen von Reisenden, Kaufleuten und ähnlichem, ihre Veranlassung finden mochte. Mit dem zehnten Jahrhundert aber begannen die fortgesetzten Einfälle und Eroberungen islamitischer Völker in Indien und bewirkten eine immer mehr zunehmende Bekanntschaft mit Indien. Von da an trat die mündliche Überlieferung gegen die literarische zurück.

Die indischen Erzählungen wurden jetzt in das Persische und Arabische übersetzt, und teils sie selbst, teils ihr Inhalt verbreitete sich verhältnismäßig rasch über die islamitischen Reiche in Asien, Afrika und Europa, und durch die vielfachen Berührungen derselben mit christlichen Völkern auch über den christlichen Okzident. In letzterer Beziehung waren die Knotenpunkte das byzantinische Reich, Italien und Spanien. In einem noch größeren Maßstabe hatten sich die erwähnten drei Gattungen (Erzählungen, Fabeln und Märchen) indischer Konzeptionen teilweise schon früher nach den Gebieten im Osten und Norden von Indien – China und Tibet – verbreitet. Von den Tibetern kamen sie endlich mit dem Buddhismus zu den Mongolen. Die Mongolen aber haben fast zweihundert Jahre in Europa geherrscht und öffneten dadurch ebenfalls dem Eindringen der indischen[22] Konzeptionen in Europa ein weites Tor. So sind es auf der einen Seite die islamitischen Völker, auf der andern die buddhistischen, welche die Verbreitung der indischen Märchen fast über die ganze Welt bewerkstelligt haben. Wie leicht sich aber derartige Konzeptionen verbreiten, mit welcher Lust und Leidenschaft sie gehört und weiter erzählt werden, wird jeder aus eigener Erfahrung bestätigen können (vergl. z.B. in bezug auf Kanada: Lönnrod im Morgenblatt 1857, Nr. 51, S. 1217). Durch ihre innere Vortrefflichkeit scheinen die indischen Märchen alles, was etwa Ähnliches bei den verschiedenen Völkern, zu denen sie gelangten, schon existiert hatte, absorbiert zu haben, »kaum, daß sich einzelne Züge in die rasch angeeigneten und nationalisierten fremden Gebilde gerettet haben mögen.« –

Benfey beherrscht alle hier einschlägigen Kreise wie keiner vor ihm. Seine Leistungen zeigen, welch wichtige Aufschlüsse noch von ihm zu erwarten stehn. Wir sind daher zur vollsten Beachtung seiner unseren Annahmen entgegenstehenden Ansicht verpflichtet. Der größte Teil seiner die indischen Märchen betreffenden Forschungen ist jedoch noch nicht veröffentlicht und die Belege, welche er in seinem Pantschatantra für seine Ansicht beigebracht, enthalten, in bezug auf die einzelnen Märchen, die er dort bespricht, unserer Ansicht nach zwar viel Wahrscheinliches, aber noch nichts unbedingt Zwingendes. Wir halten uns daher für berechtigt, an dem Standpunkte vorerst festzuhalten, für welchen uns gewichtige Gründe12[23] zu sprechen scheinen, und beschränken uns vorerst einfach auf die Mitteilung unserer langjährigen Lebenserfahrungen bei Völkern, welche den mittelalterlichen Zuständen näher stehen, als die des gebildeten Europas, in bezug auf die Möglichkeit einer Erhebung des indischen Märchenstocks zum europäischen Volksmärchen in geschichtlicher Zeit und auf dem Wege des Verkehrs.

Der Verfasser lebt seit siebenundzwanzig Jahren in der Levante und stand namentlich während seines siebenjährigen Aufenthaltes in Euböa als Richter und Gutsbesitzer in dem innigsten Verkehr mit dem griechischen Bauer. Er aß und trank, jagte und reiste mit ihm und schlief oft wochenlang in seinen Hütten und Hürden; er verbrachte gar manchen Abend in griechischen, albanesischen, bulgarischen Chans, mit andern Reisenden am gemeinsamen Feuer gelagert, gar manchen Tag auf kleinen, mit Menschen vollgepfropften Küstenfahrern, und dennoch kam er trotz aller dieser verschiedenartigen Berührungen niemals in die Lage, auch nur ein einziges Märchen zu hören. Die Unterhaltung folgte in der Regel demselben Faden; die Ereignisse des Tages, Reiseerlebnisse, Schwänke und unsaubere Erzählungen, beide letztere in Hülle und Fülle, sobald der Anstoß gegeben war, aber niemals ein Märchen. Einheimische und fremde Reisende, denen der Verfasser diese Erfahrung mitteilte, stimmten derselben ohne Ausnahme bei, doch wollten einige bei längerem Zusammensein derselben Gesellschaft – namentlich bei widrigem Wetter – auf See, nach Erschöpfung alles andern Unterhaltungsstoffes auch Märchen gehört haben, aber niemals ohne[24] Ausbrüche der Ungeduld oder des Spottes von seiten eines oder des andern Zuhörers.

Der Verfasser war nicht so glücklich, ja, er schlug selbst mit allen Versuchen fehl, jung oder alt zum Erzählen von Märchen zu bewegen; es war ihm niemals möglich, die, man möchte sagen, angeborene Scheu zu überwinden, damit zum besten gehalten zu werden. – Gleichwohl wußte er, daß im Winter die Mädchen und Frauen zueinander kommen und die Abende mit Spinnen und Märchenerzählen verbringen, ja, daß hie und da selbst Männer sich bei dieser Unterhaltung beteiligten.

Diese Erfahrungen bewogen ihn daher auch, als er den Gedanken der vorliegenden Sammlung faßte, zur Überwindung jener Schwierigkeiten sogleich den silbernen Hebel anzusetzen, und der Erfolg zeigte, daß in der Levante so wie überall für Geld alles zu haben sei, – sogar Märchen. Sie kosteten dem Verfasser jedoch noch mehr; denn als es in Jannina bekannt wurde, daß er Märchen sammeln lasse, bat ihn einer der angesehensten türkischen Großen, der alte Paschom Bey, ein Verwandter des bekannten Ali Pascha, von diesem Unternehmen abzustehn, weil es ihm als mit der konsularen Würde unverträglich, in der öffentlichen Meinung Eintrag tun müsse, und er bekam ähnliche Winke auch von griechischen Freunden.

Da nun die Erfahrungen des Verfassers mit denen übereinstimmen, welche andere Märchensammler gemacht haben, die sich alle gleichmäßig über die Schwierigkeiten beklagen, welche ihnen von der tiefwurzelnden Scheu, sich durch das Erzählen von Märchen lächerlich zu machen, bereitet wurden, so glaubt er sich zu der Schlußfolgerung berechtigt, daß das Märchen nirgends zu den zirkulierenden Geisteskapitalien eines Volkes gehöre, sondern daß es sich mit den Sparpfennigen vergleichen lasse, welche[25] der Bauer noch heutzutage an möglichst versteckten Orten in die Erde vergräbt.

Allerdings gibt es im Oriente Leute, welche das Erzählen von Märchen und Schwänken gewerbsmäßig treiben, und man hört ihren Erzählungen gerne zu; aber den Zuhörern fällt es gewiß ebenso selten ein, das gehörte Märchen wieder zu erzählen, als die Tänzerinnen nachzuahmen, denen sie zugesehn, oder uns, eine Predigt zu wiederholen, die wir angehört haben. –

Setzen wir aber auch den Fall, daß es einem Epiroten oder Albanesen, der in der Fremde sein Gewerbe treibt, einfiele, bei einem Besuche, den er seiner in der Heimat seßhaften Familie macht, ein Märchen zu erzählen, das er dort gehört hat, so ist doch von da bis zu dessen Einbürgerung in dem Kreise der Hausmärchen noch ein weiter Schritt, und es bedarf hierzu einer ganz ausnahmsweise günstigen Vereinigung von Umständen, weil einesteils zu dem Ende das stete Anhören desselben Märchens von Kindheit an erforderlich ist und andernteils der neue Eindringling den ungemein zähen, am Hergebrachten hängenden und alles Fremde feindlich zurückstoßenden häuslichen Geist zu überwinden hätte. Von der Zähigkeit dieses Geistes liefert aber unsere Schilderung der albanesischen Sitten ein schlagendes Beispiel, indem sie sich der näheren Prüfung als Spiegelbilder von Urrom und Urattika erweisen.

Wenn der Volksgeist sich so leicht neuen Formen anbequemte, so müßten alle Mundarten dem ungeheuren Drucke der Schriftsprachen – namentlich der deutschen – welchen sie durch Presse, Schule, Kirche und Berührung mit der höheren Gesellschaft zu erdulden haben, bereits seit langem bis auf die letzte Spur gewichen sein; und dennoch beweist sich dieser Druck bis jetzt so gut wie unwirksam.[26] Was vermochte bis jetzt die christliche Lehre und der naturwissenschaftliche Unterricht gegen die durch und durch auf heidnischer Grundlage ruhende Naturanschauung des Landvolks?13 Wieviel Bauern glauben, daß die Sonne still stehe und die Erde sich drehe? Gegen Wissenschaft und Literatur zeigt sich der geistige Kreis des Volkes ebenso abweisend als gegen die Schriftsprache. In neuerer Zeit hat die höhere Gesellschaft und die Wissenschaft namentlich in Deutschland angefangen, die geistigen Kreise des Volkes den ihrigen einzuverleiben. Die Annäherung ist aber nur eine einseitige. Anderwärts ist auch diese nicht erfolgt und die beiden Kreise stehen einander wie zwei fremde Welten gegenüber.14[27]

Wer aber von der Unzugänglichkeit und dem ausschließlichen Verhalten der auf mündlicher Überlieferung ruhenden geistigen Kreise der unteren Volksschichten gegen das Schriftentum der oberen in gleichem Maße durchdrungen ist, wie der Verfasser, für den kann auch z.B. der Nachweis, daß verschiedene indische Märchensammlungen in das Mongolische übersetzt worden sind, nicht zugleich den Beweis bilden, daß sich die Märchen dieser Sammlung in der Art bei dem mongolischen Volke eingebürgert haben, daß sie zu wirklichen mongolischen Volksmärchen geworden sind.

Das weibliche Geschlecht der ganzen Balkanhalbinsel ist, wenige Inseln abgerechnet, wenigstens ebenso seßhaft, wie es im übrigen Europa in den Zeiten des Mittelalters gewesen. In der Regel stirbt die Frau da, wo sie geboren ist, ohne ihre Heimat jemals zu verlassen. Nun denke man sich die geringen Berührungen, in welchen noch heutzutage abgelegene Dörfer im gebildeten Europa mit der Außenwelt stehn, und schließe daraus auf deren Zustand im Mittelalter. Nach unseren Erfahrungen dürfen wir aber dessen wandernde Fiedler und Hausierer nicht aufgelegter zum Erzählen von Märchen annehmen, als unsere heutigen Handlungsreisenden, Fuhrleute, wandernden Krämer u.s.w., weil, je niederer die Bildungsstufe, um so größer die Scheu der Männer vor dem Märchen ist.

So oft wir unsere Erfahrungen mit der Möglichkeit einer Verbreitung der Märchen durch den mündlichen Verkehr in Einklang zu bringen versuchten, erschien uns deren Übermittlung durch fremde kriegsgefangene Frauen[28] allzeit die wahrscheinlichste, weil diese den Kreisen einverleibt werden, wo das Märchen zu Hause ist und es ihnen als Wärterinnen der Kinder ihrer Herren obliegt, diese zu unterhalten.

Auch da, wo die Frauen gewerbsmäßig an fremden Orten dienen, besonders als Ammen – wie z.B. die Insel Tinos Konstantinopel seit Jahrhunderten mit Ammen versorgt – kann man voraussetzen, daß die im Vaterhause gehörten Märchen von ihnen in die Kinderstuben ihrer Dienstorte eingebürgert worden sind, und ebenso mag manches dort Gehörte durch ihre Vermittlung in ihre Heimatsorte gewandert sein.15

Was nun den Übergang der Märchen aus der Literatur in das Volk betrifft, so fällt dieses Mittel bei Völkern, welche keine solche besaßen noch besitzen, wie Walachen und Albanesen, natürlich weg. Da bei ihnen aber genau dieselben Märchen im Schwange sind, wie bei den europäischen Kulturvölkern, so läßt sich diese Übereinstimmung nicht erklären, sobald man annimmt, daß die Märchen der letzteren aus Indien stammen und, nachdem sie ihrer Literatur bekannt geworden, von dieser in das Volk übergegangen seien.

So klar uns überhaupt die Möglichkeit eines solchen Überganges für Schwänke und unsaubere Geschichten ist, so schwer können wir uns die Verbreitung der Märchen[29] von den wenigen männlichen Städtebewohnern höherer Klasse, die im Mittelalter allein als lesend angenommen werden dürfen, in die Frauen- und Kinderwelt der Bauerndörfer vorstellen. Die Schwänke, die er gelesen, wiederholt der Mann beim Wein, weil er dafür auf den Beifall seiner Zechgenossen rechnen darf; kann er dies aber auch in bezug auf die gelesenen Märchen, selbst wenn sie ihm gefallen hätten? Sollen sie von den Ammen aufgefaßt worden sein, deren Pfleglingen sie der Vater erzählte, und die sie dann nach ihrer Rückkehr in das Heimatsdorf daselbst einbürgerten? Der letztere Fall wäre im einzelnen allerdings möglich, und die Wanderungsfähigkeit des einzelnen Märchens wollen wir mit unseren obigen Bedenken überhaupt nicht in Abrede stellen. Wir glauben auch, daß sich die Entlehnung in manchen Fällen unwiderleglich dartun lassen könne, denn wenn in einem Märchen Vorstellungen vorkommen sollten, welche dem Gedankenkreise des Volkes, bei dem sie erzählt werden, erweislich fremd sind und stets fremd waren, sagen wir beispielsweise Vielmännerei in einem von einem arischen Stamme erzählten Märchen, so könnte dies Märchen nicht anders als eingewandert sein. Bei manchen wird eine solche Einwanderung höchst wahrscheinlich; dies ist z.B. bei den in dem griechischen Kreise so zahlreich vertretenen Märchen von den dankbaren Tieren der Fall, welche mit der griechischen Volksansicht von den Tieren im Widerspruche stehn, während sie sich in den buddhistischen Ideenkreis so innig eingliedern,16 daß der Gedanke sehr nahe liegt, sie als einen unmittelbaren Ausfluß dieses Kreises zu betrachten. Zwingend würde für unsere Anschauung diese Ableitung jedoch erst durch den[30] Beweis, daß der Keim zu der betreffenden buddhistischen Anschauung kein urarischer sei.

Aus dem Obigen ergibt sich, daß unsere Bedenken sich allein auf die Annahme einer massenhaften Einwanderung und Einbürgerung des indischen Märchenstockes in den europäischen Ländern beschränken, bei welcher namentlich die Erscheinung unerklärt bleibt, warum in diesen Ländern von der indischen Märchenmasse überall nur dieselben Stücke Wurzel schlugen, möge nun ihre Einwanderung durch die Literatur oder durch die mündliche Übertragung vermittelt worden sein. Auch würde es schwer fallen, bei der Annahme einer Einwanderung des indischen Märchenstockes in geschichtlicher Zeit die große Starrheit seiner Formen zu erklären, welche ihre Verwandtschaft mit den indischen Urbildern noch heute ermöglichte. Was hätte die als fremde Erzählungen einwandernden und rasch einverleibten Märchen vor willkürlicher Umgestaltung schützen sollen?

Wir haben es anderwärts versucht17, die wunderbare Zähigkeit der Sag- und Märchenform im Gegensatze zu der Schwäche der mündlichen Überlieferungskraft geschichtlicher Hergänge durch die Annahme zu erklären, daß sie einst als göttliche Wahrheiten geglaubt und somit durch den Glauben an sie gestählt wurden. Die Härte dieser Formen vergleichen wir mit der der Sprachformen, mit denen sie nach unserer Annahme gleichzeitig entstanden. So wie nun diese Härte der Urformen noch heutzutage die deutschen oder griechischen Worte den indischen urverwandt zeigt, ebenso erklärt sie die Übereinstimmung des deutschen oder griechischen Volksmärchens mit dem indischen aus der Urverwandtschaft dieser Völker.[31]

Nun noch ein Wort über das Tiermärchen. So wie der Urmensch seine Naturanschauungen sich nur dadurch begreiflich machen konnte, daß er sie in menschliche Bilder einkleidete, so bedurfte er zur Darstellung der menschlichen Verhältnisse eines Spiegelbildes und zu diesem erschien dann das Tierleben um so gelegener, als in jener Urzeit, in deren Anschauung wir sogar den Unterschied zwischen Leben und Nichtleben als verschwommen annehmen, das Unterscheidende zwischen Mensch und Tier wohl noch weniger hervortretend war. Wir erblicken daher in den Tiermärchen Spiegelbilder der Urverhältnisse der menschlichen Gesellschaft. Ob aber die Tiermärchen gleich den menschlichen auch zu Spiegelbildern von Naturanschauungen18 benutzt worden sind, müssen wir dahingestellt sein lassen. Mit dem Erwachen des sittlichen Bewußtseins wurde aber die, wie wir vermuten, schon vorhandene Form des Tiermärchens dazu benutzt, um die aufgefundenen sittlichen Wahrheiten in dieselbe einzukleiden, und hierdurch entstand die Tierfabel. Diese unterscheidet sich von dem eigentlichen Tiermärchen durch ihr vorherrschend allegorisches und tendenziöses Wesen, welchem sie bis in die neueste Zeit treu geblieben ist, und vermöge dessen sie auch eine berechtigte Stelle im Reiche der heutigen Dichtung einnimmt, welche wir dem einer längst entschwundenen und von der Gegenwart geistig verschiedenen Vergangenheit angehörenden Märchen verweigern müssen. Denn bei der Tierfabel handelt es sich nur um die entsprechende Einkleidung einer bereits als solchen vorhandenen sittlichen Lehre, und ihre Form ist keineswegs die notwendige, und daher einzige Ausdrucksform[32] dieser Lehre. So gefaßt kommt mithin der Tierfabel der symbolische Charakter des Märchens nicht zu.

Unsere Sammlung bietet aber nur wahre Tiermärchen in dem oben bestimmten Sinne, und daher findet das, was W. Grimm III, S. 462, in dieser Hinsicht von den Deutschen sagt, auch auf die Griechen volle Anwendung: »Es ist erfreulich, daß die Deutschen das Tiermärchen noch immer in seinem ursprünglichen Geiste hegen, ich meine, in der unschuldigen Lust an der Poesie, die keinen andern Zweck hat, als sich an der Sage zu ergötzen, und nicht daran denkt, eine andere Lehre hineinzulegen, als die frei aus der Dichtung hervorgeht.« –

Was wir von griechischen Tiermärchen aufzutreiben so glücklich waren, rechnen wir fast ausnahmslos zu den Perlen unserer Sammlung. Bei der Übereinstimmung des deutschen und griechischen Tiermärchens in der Auffassung der beiden Hauptgestalten Wolf und Fuchs und ihrer gegenseitigen Stellung im allgemeinen, welche an die unten folgende Odysseus-Polyphem-Formel Nr. 38 anklingt, zeigt sich die größte Abweichung in den Einzelzügen und findet sich außer der im einzelnen sehr verschiedenen »Beichte« unseres Wissens kein anderer gemeinsamer Zug. Ebenso scheint, so weit wir sehen, im Deutschen der Gegensatz, nämlich die Überlistung des Listigen durch den Dümmling, zu fehlen, welchen das griechische Märchen in Nr. 92 und 93 darstellt.

Fußnoten

1 Vorrede zu den Kinder- und Hausmärchen. Auflage 6. 1850. S. LXVII.


2 S. LXII.


3 S. LXIII.


4 S. LXIX.


5 Auf dieser Stufe finden wir den hellenischen und skandinavischen Götterkreis bereits angelangt.


6 Diese Ansicht von dem versinnlichenden Entwicklungsgang der Sagen und Märchen gewährt uns in der größeren oder geringeren Versinnlichung mehrerer Formen derselben Wurzel ein sicheres Unterscheidungszeichen über das Alter derselben. Diejenige Form, welche sich den menschlichen Verhältnissen inniger anschmiegt als eine andere, muß uns daher für die jüngere gelten, und weil wir die Möglichkeit jeder Rückkehr der sinnlicheren Form zu der übersinnlicheren leugnen, so halten wir die Ableitung der letzteren aus der ersteren für ebenso unmöglich als z.B. die Ableitung des lateinischen pater aus dem sanskritischen pita; denn die Sprache folgt einem ähnlichen Entwicklungsgesetze, nach welchem ihr nur der Übergang von der stärkeren Form zu der schwächeren erlaubt, aber die Rückkehr von dieser zu der stärkeren Form versagt ist. Daher ist es uns z.B. nicht denkbar, daß die 40 Draken oder die 12 Zwerge, bei denen das albanesische oder deutsche Schneewittchen lebt, aus den 12 Räubern hervorgegangen seien, welche das walachische Schneewittchen beherbergen, wohl aber das umgekehrte. Ebenso muß das in Abschnitt IV, S. LXVIII, Note 2 erwähnte Fernrohr des litauischen Märchens eine jüngere Form derselben Wurzel sein, als Nidungs Siegstein in der Wielands-Sage. Auch kann sich aus dem Betttuche, welches in der neapolitanischen Form der Siegfriedsage der Schwager zwischen sich und seine Schwägerin zieht, nicht das Schwert entwickelt haben, welches er in der griechischen Form zwischen sich und seine Schwägerin legt, weil wir in diesem ein Bild der zwischen dem verkörperten Sonnenball und der als Göttin gedachten Abendröte stehenden Neusichel des Mondes erblicken.


7 Vergleichende Blicke auf die hellenischen und germanischen Götter-, Helden- und Weltsagen. Einleitung § 9.


8 Näheres in der oben angeführten Einleitung § 9.


9 Schott, Walachische Märchen S. 345. »Man kann kecklich aussprechen, daß Märchen und Heldensage ursprünglich eines sind. Was von der alten Göttersage jetzt noch im Volksmunde umgeht, heißt Märchen; was in früherer Zeit von Dichtern aufgegriffen, künstlerisch gestaltet, gläubig mit Geschichte vermengt, als Geschichte weiter verbreitet ward, heißt Heldensage.« (Nach unserer Ansicht zeigt sich die Sage gegen den geschichtlichen Stoff selbst dann abweisend, wenn sie sich frisch auf eine geschichtliche Persönlichkeit ablagert. Vergleichende Blicke. Einleitung § 9.)


10 Wir geben diesem Worte hier eine sehr ausgedehnte Bedeutung und begreifen darunter auch Anekdoten, unsittliche Liebesgeschichten und Zoten.


11 Pantschatantra, Vorrede S. XXII, folg.


12 S. namentlich das, was wir im Abschnitt III über die ebenso scharfen als engen Verwandtschaftsgrenzen des deutsch-griechischen Märchens und der germanisch-hellenischen Sage beibringen. Wir möchten diese Frage Benfeys näherer Beachtung empfehlen, weil niemand erschöpfenderen Aufschluß über das Verhalten der indischen und andern asiatischen Sag- und Märchenkreise zu dieser interessanten Gruppe zu geben imstande wäre, und dieser Aufschluß das hellste Licht über das Verhältnis des Märchens zur Sage und das Wesen der Sage überhaupt verbreiten müßte.


13 S. Schwartz, Ursprung der Mythologie. Einleitung: Vom heidnischen Volksglauben in seiner Anlehnung an die Natur.


14 Die Naturvölker unterscheiden sich zwar von den Kulturvölkern durch den Mangel der auf dem Schriftentume ruhenden Bildung. Sie sind aber gleichwohl nicht jedes Geistesschatzes bar. Dieser natürliche, durch mündliche Übertragung fortgepflanzte Geistesschatz des Volkes zerfällt uns in einen formalen und einen realen Teil. Der erstere begreift die Sprache als den Inbegriff der lautlich fixierten Denkgesetze und die Sitte als Inbegriff der Lebensformeln. Der reale Teil umfaßt Sage und Märchen, welche ursprünglich die menschliche Anschauung der Naturkräfte und Naturverläufe darstellten, im Laufe ihrer Entwicklung aber geschichtliche Form annehmen, Fabeln und Sprichwörter, welche die Natur des Menschen und dessen Verkehr mit andern untersuchen, Lieder, welche den Regungen des Gemütes und besonders deren stärkster, der Liebe, Worte verleihen, endlich Witze, Rätsel und Schwänke, welche letztere allein von Volk zu Volk wandern. Die Erinnerungskraft der Naturvölker für geschichtliche Ereignisse, selbst wenn sie in Lieder gefaßt sind, ist sehr schwach und auf eine geringe Anzahl von Geschlechtern beschränkt; daher haben solche Völker keine Geschichte: diese ist eine ausschließliche Tochter der Bildung.

Was von den Naturvölkern, das gilt auch von den dem Schriftentume fernstehenden Teilen der Kulturvölker, und der sogenannte Volksunterricht hat hieran noch wenig geändert.

Alles Volk hat also seinen nur auf mündlicher Überlieferung beruhenden, nicht in der Schule erworbenen Geistesschatz, welcher fremder Einwirkung fast unzugänglich ist. Über diesen und die gegen ihn begangenen Sünden sollte Riehl ein Buch schreiben.


15 Leider besitzen wir zu wenig tiniotische Märchen, um hierüber sichere Nachweise zu geben. Unter den acht dort von gebildeter Hand aufgeschriebenen Märchen befindet sich eine Variante zu dem Märchen von der Lampe Aladins, was sich jedoch möglicherweise auf die neugriechische Übersetzung von Tausendundeine Nacht zurückführen ließe. Drei davon sind unter Nr. 62, 63 und 86 in den Text, die übrigen als Varianten zu andern griechischen Märchen aufgenommen worden.


16 Benfey, Pantschatantra I. S. 208.


17 Vergleichende Blicke. Einleitung § 9.


18 Der Hinblick auf die alten Tierdienste möchte die Frage eher bejahen als verneinen.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. IX9-XXXIII33.
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