[116] 20. Die erfüllte Prophezeiung.

Es war einmal ein Kaufmann, der hatte großen Reichtum, aber keinen Sohn, und dem war einst prophezeiht worden, daß ihm der jüngste Sohn eines armen Mannes sein ganzes Vermögen vergeuden werde. Um dies zu verhindern, ging er zu dem armen Mann und fragte ihn, »wie viel er für seinen jüngsten Sohn haben wolle.« Dieser antwortete, »seine Kinder seien ihm nicht feil.« Da sagte ihm der Kaufmann, »daß er selbst keinen Sohn habe und daher den seinigen wie sein Kind halten wolle.« Als das der Arme hörte, da gab er ihm den Knaben, ohne irgend eine Zahlung dafür anzunehmen.

Der Kaufmann aber nahm das Kind, ging mit ihm bis zu einer Brücke, warf es mitten in den Fluß und hielt sich nun von der Furcht entledigt, daß ihm dasselbe seinen Reichtum vergeuden werde. Am andern Morgen fand aber ein Schäfer das Kind auf dem Sande liegen. Er zog es mit seinem Schäferstab zu sich, und da er selbst keine Kinder hatte, so trug er es nach Hause zu seiner Frau und sprach: »siehe Frau, da hat uns der liebe[116] Gott ein Kind geschenkt.« Sie zogen es auf und behielten es bei sich, bis es fünfzehn Jahr alt war. Da kam eines Tags der Kaufmann in das Dorf, kehrte in dem Hause des Schäfers ein, und als er dort den Knaben erblickte, wunderte er sich über dessen Schönheit und fragte den Schäfer, »ob es sein Sohn wäre.« Der Schäfer erzählte darauf, »daß er ihn am Flusse gefunden und aufgezogen habe.« Da merkte der Kaufmann, daß dies derselbe Knabe sei, den er von der Brücke ins Wasser geworfen, und beschloß ihn aus dem Wege zu räumen. Er bat daher den Schäfer, den Knaben in sein Haus zu schicken, um die Rechenbücher zu holen, die er vergessen habe, und gab ihm einen Brief an seine Frau mit, in welchem geschrieben stand: »den Knaben, welcher dir diesen Brief bringt, mußt du auf jede Weise umzubringen suchen.«

Unterwegs aber begegnete der Knabe einem göttlichen Manne, der fragte ihn: »wo willst du hin, mein Sohn?« Der Knabe aber antwortete: »ich soll für einen Kaufmann seine Rechenbücher holen, und er hat mir auch einen Brief an seine Frau mitgegeben.« Da ließ sich jener den Brief geben und vertauschte ihn mit einem andern, in dem geschrieben stand: »den Knaben, welcher dir diesen Brief bringt, sollst du sogleich mit unserer Tochter verheiraten.« Als nun der Knabe zum Haus des Kaufmanns kam und den Brief dessen Frau gab, da erstaunte sie freilich über das, was in dem Briefe stand, weil er aber mit dem Siegel ihres Mannes gesiegelt war, so gehorchte sie und ließ den Knaben ohne Aufschub mit ihrer einzigen Tochter einsegnen.

Der Kaufmann hielt sich so lange auf dem Lande auf, als er glaubte, daß seine Frau nötig habe, um den Knaben aus dem Wege zu räumen; als er aber nach Hause[117] kam, fand er denselben als Gemahl seiner einzigen Tochter wieder. Da stellte er seine Frau zu Rede, diese aber zeigte ihm den Brief, den sie von ihm erhalten hatte. Als der Kaufmann diesen gelesen, wunderte er sich sehr, und wußte nicht, was er davon halten sollte. Endlich aber entschloß er sich, ehe ihm jener sein Vermögen vergeude, ihn lieber aus der Welt zu schaffen.

Er schrieb also einen Brief an den Weinbergswächter, daß er denjenigen erschießen solle, welcher um die und die Stunde in seinen Weinberg käme, und als die angegebene Zeit heranrückte, da sagte er zu seinem Schwiegersohne, er solle in den Weinberg gehn und Trauben holen. Dieser aber lief, so rasch er konnte, dorthin, so daß er vor der festgesetzten Zeit in den Weinberg kam, schnitt dort die Trauben, und machte bei der Rückkehr einen Umweg, um auch noch einige Feigen zu pflücken. Unterdessen ward der Kaufmann ungeduldig, und um zu erfahren, was in dem Weinberge vorgefallen sei, machte er sich auf, und ging hin, und in dem Augenblick, wo er dort eintrat, erschoß ihn der Wächter.

Als der junge Mann das erfuhr, da lief er hin und wollte den Wächter packen. Der aber zog den Brief heraus, den ihm der Kaufmann geschrieben hatte, und nachdem er diesen gelesen, sagte er: »es ist ihm recht geschehen«, und ließ den Wächter in Ruhe. Darauf kehrte er nach Hause zurück und fing ein so flottes Leben an, daß von dem ganzen Vermögen seines Schwiegervaters in kurzer Zeit nichts mehr übrig war.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 116-118.
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