[212] 39. Lügenmärchen.

Es war einmal ein Lügner, der hatte eine bildschöne Tochter und machte bekannt, daß er sie demjenigen zur Frau geben wolle, der ihn im Lügen übertreffe. In seiner Wohnung hatte er einen Hahn, eine Katze und einen Hund. Da kam eines Tages ein Lügner zu ihm und sagte, daß er sich mit ihm versuchen wolle. Der Alte erwiderte, er sei das zufrieden, und fragte ihn, indem er auf[212] seinen Hahn zeigte: »hast du jemals einen so schönen Hahn gesehen?« »Nein«, sagte jener, und darauf jagte ihn der Alte fort und sprach: »mache daß du fortkommst, du bist nicht für meine Tochter.«

Am andern Tage kam ein anderer Lügner und der Alte tat dieselbe Frage. Da sagte dieser: »als sich meine Mutter verheiratete, hatten wir einen Hahn und mit dem schickte sie mich in die Stadt, um mit ihm eine Last Wein und Mehl zu holen, aber unterwegs wurde mir der Mehlsack und der Weinschlauch gestohlen; was sollte ich nun anfangen? Doch ich verlor den Mut nicht, sondern fing mir eine Laus und einen Floh, balgte sie aus und in das Lausfell tat ich das Mehl und in den Flohschlauch den Wein, belud damit den Hahn und brachte es meiner Mutter.

Zu der Hochzeit meiner Mutter luden wir die ganze Welt ein, ich wollte aber auch unseren Herrgott dabei haben. Ich stieg also auf den Hahn, um auf ihm in den Himmel zu reiten und ihn einzuladen, und nahm auch unsere Katze mit. Als ich ans Meer kam, ging ich hinein, um durchzuschwimmen, und nachdem ich eine Zeitlang geschwommen war, fand ich eine Wassermelone; ich wollte sie aufschneiden, während ich sie aber aufschnitt, verlor ich in der Melone mein Messer. Ich schlüpfte also hinein, um es zu suchen. In der Melone fand ich einen Derwisch, zu dem sagte ich, daß ich mein Messer in der Melone verloren hätte, der half mir suchen, wir konnten es aber nicht finden, und vorgestern, als ich an ihr vorbeikam, versanken mir in der Melone vier Lasten Wolle.

Endlich kam ich zu unserem Herrgotte, er war aber zu stolz um die Einladung anzunehmen; doch schickte er seinen Sohn. Als ich darauf zur Hochzeit zurückkehren wollte, fand ich unterwegs ein goldenes Buch; ich stieg[213] vom Hahne um es zu holen, machte es auf und las und las und im ganzen Buche stand immer dasselbe.« – »Was denn?« fragte der Lügner neugierig; und jener sprach: »darin stand, daß du mir deine Tochter zur Frau geben sollst.« Da lachte der Alte und gab ihm seine Tochter zur Frau.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 212-214.
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