[39] 7. Goldgerte.

Es war einmal ein Kaufmann, der handelte nach Indien und hatte drei Töchter. Als er wieder einmal nach Indien gehen wollte, da bat ihn die älteste Tochter, daß er ihr ein indisches Kleid mitbringe, die zweite ein indisches Kopftuch, die jüngste aber die goldene Gerte, und damit er ihre Aufträge nicht vergesse, so wünschten sie ihm, daß, wenn er nicht alles Bestellte mitbringe, sein Schiff nicht von der Stelle könne.[39]

Als er nun nach Indien kam, da kaufte er alle Waaren, die er nötig hatte, und dazu auch das Kleid und das Kopftuch für die zwei ältesten Töchter, aber an die goldene Gerte der Jüngsten dachte er nicht, und als er wieder heim fahren wollte, kam sein Schiff trotz des günstigen Windes nicht von der Stelle. Da setzte er sich an den Strand und dachte nach, was wohl Schuld daran wäre.

Während er so da saß, kam ein Bauer vorüber und fragte ihn, warum er so betrübt sei. Anfangs wollte er es ihm nicht sagen. Der Bauer aber ließ nicht nach, bis er es erfahren hatte, und sagte darauf: »denke einmal nach, ob du nicht etwas versprochen und nicht gehalten hast.« Da dachte der Kaufmann nach und endlich fiel ihm ein, daß er den Auftrag seiner jüngsten Tochter vergessen habe. Er fragte also den Bauer, wo die goldene Gerte zu finden wäre, und der zeigte ihm einen Weg, auf dem er drei Stunden lang gehen solle, und dann würde er hinkommen.

Da ging der Kaufmann den Weg, den ihm der Bauer gezeigt hatte, und als er drei Stunden gegangen war, erkundigte er sich bei den Leuten auf dem Felde, wo die goldene Gerte sei. Sie zeigten ihm ein großes Schloß und sagten, darin wohne die goldene Gerte, denn so heiße der Königssohn. Als das der Kaufmann hörte, erschrak er nicht wenig, doch faßte er ein Herz, ging vor das Schloß und begehrte vom König die Erlaubnis herein zu kommen. Als er sie erhalten hatte, und der König ihn fragte, was sein Begehren sei, antwortete er, daß er mit dem Königssohne zu sprechen wünsche. Da führte ihn der König in das Gemach, in welchem sein Sohn wohnte, und dieser fragte den Kaufmann, was sein Begehren sei. Der Kaufmann erzählte, was ihm seine Tochter aufgetragen und wie es ihm darauf ergangen sei. Als das[40] der Königssohn hörte, führte er den Kaufmann in einen Saal, in welchem viele Mädchen abgebildet waren, und fragte ihn: »ist deine Tochter so hübsch wie diese?« Der aber antwortete: sie sei noch tausendmal schöner. Da führte er ihn in ein anderes Gemach, wo das Bild einer Jungfrau hing, welche er im Schlafe gesehen und von der er geträumt hatte, daß er sie heiraten werde, und fragte ihn: »ist deine Tochter so hübsch wie diese?« Der Kaufmann aber rief: »das ist sie, wie sie leibt und lebt.« Darauf gab ihm der Königssohn einen Brief, ein Becken und einen Ring und sagte ihm, daß er das alles seiner Tochter geben solle. Der Kaufmann nahm die drei Stücke und empfahl sich, und als er wieder auf sein Schiff kam, lief es so schnell, daß es in kurzer Zeit nach Hause kam.

Da kamen ihm seine Töchter entgegen und fragten, ob er ihnen mitbrächte, was er ihnen versprochen habe; er aber packte die Geschenke aus und gab der ältesten das Kleid, der zweiten das Kopftuch und der jüngsten den Brief, das Becken und den Ring. Die lief damit in ihre Kammer, schloß sich ein und öffnete den Brief des Prinzen, und darin stand, wenn sie ihn haben wolle, so solle sie das Becken mit Wasser füllen, den Ring hineinwerfen und dreimal rufen: »komm, komm mein goldenes Gertchen!« Dann würde er als Taube geflogen kommen, sich in dem Wasser baden und in einen Mann verwandeln; darum solle sie ein Loch in die Zimmerdecke machen, damit er durch dasselbe zu ihr könne.

Das Mädchen tat, was in dem Briefe geschrieben stand, und so wie sie das Becken mit Wasser gefüllt und den Ring hineingelegt hatte, kam das Täubchen geflogen, badete sich in dem Wasser und verwandelte sich in einen schönen jungen Mann, und nachdem sie lange Zeit mit einander geschwatzt hatten, badete er sich wieder, ward[41] zur Taube und flog davon. Beim Abschiede gab er ihr eine Nuß und sagte, daß sie dieselbe aufschlagen und das anziehen solle, was sie darin finde.

Darauf schlug das Mädchen die Nuß auf, und fand darin einen ganzen Anzug, auf dem der Himmel mit seinen Sternen zu sehen war. Als sie ihn angezogen hatte und aus ihrer Kammer trat, da bewunderte sie alle Welt und ihre Schwestern begannen neidisch auf sie zu werden.

Nach einigen Tagen ließ sie ihren Geliebten wieder zu sich kommen und beim Abschied gab er ihr diesmal eine Haselnuß, die sie zerschlagen und was darin sei anziehen solle. In der Haselnuß war aber ein ganzer Anzug, auf dem das Meer mit seinen Wellen zu sehen war. Als sie nun diesen angezogen hatte, und aus ihrer Kammer trat, da bewunderte sie alle Welt und ihre Schwestern beneideten sie noch mehr.

Beim dritten Mal gab er ihr eine Feige und sagte, daß sie die aufschneiden und das, was darin wäre, anziehen solle. In der Feige war ein Anzug, auf dem der Maimonat mit seinen Blumen zu sehen war, und als sie mit diesem aus ihrer Kammer trat, da bewunderte sie alle Welt. Ihre Schwestern aber wurden so neidisch auf sie, daß sie sich mit einander berieten, was sie ihr Böses antun könnten. Darauf beschlossen sie, ihre Schwester zu belauschen, wenn sie sich wieder einsperrte, um zu sehen, wie sie zu den schönen Kleidern käme. Als sie nun merkten, daß sie sich wieder eingesperrt hatte, da schlichen sie an ihre Türe, in der ein kleiner Riß war, und sahen, wie sie Wasser in das Becken goß, den Ring hinein warf, und dem Täubchen rief, und wie sich das in einen schönen Prinzen verwandelte, der mit ihr koste und dann wieder als Taube davon flog.

Nachdem sie das alles mit angesehen hatten, wollten[42] sie ihrer Schwester ihr Glück nicht allein gönnen, sondern auch ihr Teil daran haben. Sie berieten sich also, wie sie das machen sollten, und als sie darüber einig waren, beschlossen sie, daß es zuerst die Älteste versuchen solle. Wie sie nun am andern Morgen zusammen ins Bad gingen, ließ diese einen Sack Perlen auf die Erde fallen, kauerte sich nieder, um sie aufzulesen, und blieb so hinter den anderen zurück. Dann aber lief sie schnell in die Kammer der Jüngsten, nahm das Becken, füllte es mit Wasser, legte den Ring hinein und rief dreimal: »komm, komm mein goldenes Gertchen!« aber in der Eile hatte sie nicht gesehen, daß in dem Becken ein Messer lag, und als nun die Taube geflogen kam, sich in das Becken stürzte und untertauchte, da schnitt sie sich an dem Messer in den Hals, und das Wasser wurde rot von dem Blute, das aus der Wunde floß; die Taube aber schwang sich auf und flog fort. Darüber erschrak die älteste Schwester so sehr, daß sie alles stehen ließ und davon lief.

Als nun die Jüngste aus dem Bade zurückkehrte und ihr Täubchen rufen wollte, da sah sie das Becken mit dem blutigen Wasser und nun erriet sie, was vorgegangen war, und begann zu weinen und zu schluchzen: »ach! ach! welches Unglück!« Nachdem sie sich aber satt geweint, ging sie zu ihrem Vater und sagte: »lieber Vater, ich kann nicht länger bei dir bleiben, sondern muß in die Fremde, laß mir also einen schönen fränkischen Anzug machen und rüste mir ein Schiff aus, um damit in die Welt zu fahren.« Als alles fertig war, was sie verlangt hatte, stieg sie zu Schiff und ließ es nach Indien fahren.

Auf ihrer Fahrt mußte aber das Schiff einmal anlegen, und die Prinzessin stieg ans Land, um sich ein bischen umzusehen. Als sie eine Weile gegangen war, sah sie, wie eine Taube von einem Stoßvogel verfolgt wurde,[43] und hörte, wie sie den fragte: ob er denn gar kein Herz für die Krankheit des Königssohnes habe, den alle Ärzte aufgegeben hatten. Darauf antwortete der Stoßvogel: »die Ärzte wissen freilich nicht, wie der zu heilen ist.« Da fragte die Taube: »mit welchem Mittel ist er zu heilen?« Jener antwortete: »wenn man uns tötet und aus unserem Fleische mit dem Wasser jener Quelle eine Salbe kocht und damit den Hals des Jünglings bestreicht, so wird er heil.«

Als das die Jungfrau hörte, legte sie sofort ihr Gewehr auf beide Vögel an und schoß sie mit einem Schusse herunter. Darauf schöpfte sie Wasser aus der Quelle, die der Stoßvogel angegeben, und kochte aus dem Fleische der beiden Vögel eine Salbe. Als sie damit in Indien angekommen war, verkleidete sie sich als Arzt, zog vor das Schloß ihres Geliebten, und rief was sie konnte: »wer braucht einen guten Arzt, wer kauft gute Arzeneien?« bis es der König hörte, sie vor sich kommen ließ und fragte: »kannst du meinen Sohn heilen?« Sie antwortete: »erst muß ich ihn sehen«, und nachdem sie ihn gesehen hatte, sagte sie: »ich heile ihn in acht Tagen, daß er wieder auf die Jagd gehen kann.« Als das der König hörte, freute er sich ungemein. Die anderen Ärzte aber riefen: »wenn der den Königssohn in acht Tagen heilt, so laß uns allen die Köpfe abschlagen.« Doch der König hörte nicht auf sie und ließ die Jungfrau gewähren. Als sie nun den Hals des Kranken zum ersten Male mit der Salbe bestrich, da wurde ihm schon besser, und nach zwei Tagen begann er schon zu sprechen, und nach acht Tagen ging er mit dem Arzte auf die Jagd.

Als der König sah, daß sein Sohn völlig heil war, fragte er den Arzt, welche Gnade er sich von ihm ausbitte zum Danke für das Gute, das er ihm erwiesen habe.[44] Da antwortete dieser: »ich verlange weiter nichts von Euer Majestät als ein großes Gastmahl zu meinen Ehren, dem alle Fürsten von ganz Indien beiwohnen sollen«; und der König versetzte: »was du verlangst, ist für mich eine Kleinigkeit; weil du es aber wünschest, mag es sein.«

Sofort ließ der König ein großes Gastmahl bereiten und lud die Fürsten von ganz Indien dazu ein, und als die Mahlzeit zu Ende war, da erhob sich die Jungfrau und bat den König, daß er Stille gebieten solle, weil sie ein Märchen erzählen wolle. Sobald nun alles still geworden war, begann sie und erzählte der Reihe nach alles, was sich mit ihr und dem Königssohne zugetragen, und als sie zu Ende war, warf sie ihren falschen Bart und ihre Mannskleider weg und rief: »ich bin das Mädchen, von dem ich euch erzählt habe, ich bin die Frau des Königssohns.« Als das der König hörte, umarmte er sie und rief: »du bist meine Schwiegertochter.« Darauf stellte er eine große Hochzeit an und gab das Paar zusammen, und sie lebten von da an herrlich und in Freuden.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 39-45.
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