[88] 76. Dionysos.

Mitgeteilt von Professor Christian Siegel


Auf einer oryktologischen Wanderung, welche ich im Jahre 1846 in Böotien machte, kehrte ich im Dorfe Kokino, am Fuße des Ptoon-Gebirges, ein, um dort zu[88] ubernachten, und ein dortiger Bauer, welchen ich am Markttage in Theben bei folgender Veranlassung kennen gelernt, nahm mich gerne in sein innen und außen reinlich geweißtes Häuschen auf. Acht Tage früher hatte ich diesen Mann in Theben gesehn, wie er eben zwei Säckchen Getreide verkaufte, welche er auf seiner langohrigen Lokomotive zur Stadt gebracht, und das Geld mit wichtigem Gesichte einstrich. Darauf ging er ans Einkaufen. Das erste waren ein Paar kleine Kinderschuhe, und dann ein Stückchen Fleisch, welches dort in im ganzen gebratenen Schafen feilgeboten wird; eine Industrie der Schlachter an Markttagen. Nachdem er sich an diesem und an mitgebrachtem Brote gestärkt hatte, sah er sich weiter um, und ich bemerkte, daß sich sein Hauptaugenmerk auf ein Messer richtete, welches dort feil lag. Er erkundigte sich nach dem Preis, hielt Rat mit seinem Geldbeutel und ging, ohne zu kaufen, weiter, kehrte jedoch zweimal zurück, um wenigstens den gewünschten Gegen stand nochmals zu besehen, und dann auf immer zu verlassen. Ich hatte ihn mit Interesse beobachtet und machte mir den Spaß, das Messer zu kaufen und ihm zu schenken. Dieses unerwartete Ereignis setzte ihn in freudiges Erstaunen. Er drückte sich in den herzlichsten Dankesworten aus und erzählte mir, daß er seit einem Jahre verheiratet und bereits Vater sei, weshalb er die kleinen Schuhe gekauft habe, in der Hoffnung, daß das Kindlein bald laufen werde. Darum habe er auch die Schuhe dem Messer vorgezogen, obgleich ein Messer eine große Vervollkommnung seiner häuslichen Einrichtung sei, da er nur ein, und zwar ein schlechtes Exemplar, besitze. Athanas, so hieß der Mann, trennte sich nun von mir, nachdem er mich freundlichst eingeladen hatte, ihn in seinem Dorfe Kokino zu besuchen, welches ich[89] denn auch versprach und, wie gesagt, acht Tage später ausführte.

Die Nachbarn meines Gastfreundes hatten sich sogleich neugierig gesammelt, um zu erfahren, wer der Fremde sei, woher und wohin. Athanas sagte nun, daß ich Christo heiße, und erzählte zugleich, wie er meine Bekanntschaft gemacht habe, welches einen ersichtlich guten Eindruck auf meine neuen Freunde machte. Nun wurden Brot, Wein und Trauben, welch letztere eben in Fülle vorhanden waren, aufgetragen. Wir lagerten uns nun auf das sicherste Kanapee, Gottes Erdboden, aßen, tranken und schwatzten frohester Laune darauf los; der eine lobte die Trauben, der andere den Wein. Ich fragte bei dieser Gelegenheit meinen Wirt, ob er auch wisse, wie die Trauben den Namen Stafilia erhalten haben. »Nein,« war die Antwort, »aber,« setzte er sogleich hinzu, »wenn du es weißt, Christo, so erzähle es.« Ich erzählte nun den Mythus von dem Hirten Stafilos, welcher mit großer Aufmerksamkeit angehört wurde und alle um so mehr befriedigte, da der Name von einem Manne ihres Standes herrührte. Neben mir saß ein weißbärtiger alter, aber heiterer Mann. »Ja,« begann dieser, »ihr Franken kennt unsere Historien besser als wir selbst, allein ich will doch sehen, ob ihr auch alle kennt; sage, Christo, weißt du denn auch, wie die erste Rebe gepflanzt wurde«? – »Nein,« antwortete ich, »das weiß ich nicht, überhaupt fällt es uns Franken gar nicht ein, alles wissen zu wollen, gewiß wisset ihr Hellenen manches, was wir nicht wissen, also wenn du es weißt, wie die erste Rebe gepflanzt wurde, so erzähle es.« Ich muß gestehen, daß ich auf nichts weiter als auf eine derbe Bauerngeschichte gefaßt war, allein der Erzähler verbesserte bald meine Meinung, indem er also anhob. »Als Dionysios noch klein war, machte er[90] eine Reise durch Hellas, um nach Naxia zu gehen; da aber der Weg sehr lang war, ermüdete er und setzte sich auf einen Stein, um auszuruhen. Als er nun so dasaß und vor sich niederschaute, sah er zu seinen Füßen ein Pflänzchen aus dem Boden sprießen, welches er so schön fand, daß er sogleich den Entschluß faßte, es mitzunehmen und zu pflanzen. Er hob das Pflänzchen aus und trug es mit sich fort; da aber die Sonne eben sehr heiß schien, fürchtete er, daß es verdorren werde, bevor er nach Naxia komme. Da fand er ein Vogelbein und steckte das Pflänzchen in dasselbe und ging weiter. Allein in seiner gesegneten Hand wuchs das Pflänzchen so rasch, daß es bald unten und oben aus dem Knochen herausragte. Da fürchtete er wieder, daß es verdorren werde, und dachte auf Abhilfe. Da fand er ein Löwenbein, das war dicker als das Vogelbein, und er steckte das Vogelbein mit dem Pflänzchen in das Löwenbein. Aber bald wuchs das Pflänzchen auch aus dem Löwenbein. Da fand er ein Eselsbein; das war noch dicker als das Löwenbein, und er steckte das Pflänzchen mit dem Vogel- und Löwenbein in das Eselsbein, und so kam er auf Naxia an. Als er nun das Pflänzchen pflanzen wollte, fand er, daß sich die Wurzeln um das Vogelbein, um das Löwenbein und um das Eselsbein festgeschlungen hatten; da er es also nicht herausnehmen konnte, ohne die Wurzeln zu beschädigen, pflanzte er es ein, wie es eben war, und schnell wuchs die Pflanze empor und trug zu seiner Freude die schönsten Trauben, aus welchen er sogleich den ersten Wein bereitete und den Menschen zu trinken gab. Aber welch Wunder sah er nun! Als die Menschen davon tranken, sangen sie anfangs wie die Vögelchen; wenn sie aber mehr davon tranken, wurden sie stark wie die Löwen, und wenn sie noch mehr tranken, wurden sie wie die Esel.« Die Erzählung[91] erregte allgemeine Heiterkeit, der Erzähler erhielt seinen Lohn in einem jubelnden e Viva! und wir tranken alle, bis wir sangen, wie die Vögelchen, allein wir legten uns zur Ruhe, bevor Löwe und Esel Anteil an uns nehmen konnten.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 88-92.
Lizenz:
Kategorien: