XLII. Die kunstreichen Brüder.

[177] Lbs. 538 4 to.


Einst lebte ein Königspaar, das sechs Töchter hatte. Nicht weit vom Schlosse lebte der Bruder des Königs. Auch er war verheiratet und zwar mit einer sehr geizigen Frau. Diese ärgerte sich darüber, dass sie so oft die Gäste des Königs auch bei sich empfangen mussten. So zog auf ihren Vorschlag[177] ihr Mann einst heimlich mit ihr fort in ein weit von allen Menschen gelegenes Tal. Dorthin nahmen sie dann all ihr Hab und Gut mit sich. Im Laufe der Zeit bekamen sie hier sechs Söhne. Da kein Geistlicher da war, liessen sie sie ohne allen Unterricht, ohne jede Kenntnis von Welt und Menschen aufwachsen. Als der älteste zwanzig Jahre alt war, kamen die Brüder einst beim Viehhüten ins Gespräch darüber, ob es ausser ihnen und den Eltern auch noch andere Menschen gebe. Denn der Vater müsse doch auch Vater und Mutter gehabt haben und ebenso die Mutter. Wie sie nach Hause gekommen sind, fragen sie die Mutter danach. Doch diese versichert, dass sie die einzigen Menschen auf der Welt seien. Der Vater und sie seien beide aus einem Eichbaume hier im Tale entsprungen. Doch die Söhne glauben ihr nicht recht, und wie wieder einmal der Vater nach längerer Abwesenheit ins Tal zurückkehrt, versteckt sich der jüngste unter das Bett der Eltern. Diese glauben sich allein, und so berichtet denn der Mann über alles, was er in der alten Heimat gesehen und gehört hat. Der Lauscher erzählt den Inhalt des Gesprächs seinen Brüdern. Nun beschliessen diese, aus dem Tale zusammen fortzuziehen, um die übrigen Menschen kennen zu lernen. Da die Eltern sehen, dass ihre Söhne sich nicht mehr zurückhalten lassen, rüsten sie sie mit allem Nötigen aus. Zum Abschiede gibt ihnen dann die Mutter noch allerhand Zaubergaben. Zuerst ein Knäuel, das ihnen den Weg zeigen soll, dann ein Schwert, das alles zu durchhauen vermag, ferner eine Nussschale, die man nur aufs Wasser zu setzen braucht, um aus ihr ein grosses Schiff zu machen, das steuert, wohin man nur will, und schliesslich einen Leinwandsack, in dem ein Pulver sich befindet. Sowie man dies auf den Boden streut, wird es hell wie der Tag. – Nun ziehen die Brüder in die Welt hinaus. Wie sie an ein umzäuntes Weideland kommen, gehen sie so lange am Zaune vorbei, bis sie zu einem Eingange gelangen. In diesem steht ein Mann in roter Kleidung, der sich Rauður, der Minister des Königs, nennt. Er will Namen und Herkunft der Brüder wissen. Diese haben keine Ahnung, was sie darauf antworten sollen. Schliesslich legen sie sich nach ihren verschiedenen Eigenschaften einen[178] Namen bei und nennen sich also der Guthauende, der Gutwachende, der Gutsingende, der Gutkletternde, der Gutspürende und der Gutschlafende. Sie stellen sich nun mit diesen Namen dem Minister vor und bitten nochmals um Einlass. Da er ihnen höhnisch verweigert wird, klettert der Gutkletternde über den Zaun und hilft dem Guthauenden auch hinüber. Der schlägt nun dem Rauður den Kopf ab und öffnet dann seinen Brüdern das Tor. Sie gehen alle sechs hinein, geradewegs auf die Königshalle zu. Hier treffen sie eine Unmenge Menschen. Da sie in allen weltlichen Dingen unerfahren sind und auf keinerlei Fragen antworten können, so lachen alle über ihre Dummheit. Der König hört von den seltsamen Ankömmlingen und lässt sie zu sich rufen. Bald erkennt er, wie alles zusammenhängt. Die Brüder werden in allem Wissenswerten unterrichtet und gelangen beim Könige zu hohem Ansehen. Gegen Weihnachten beginnt jedoch der König traurig und schweigsam zu werden. Auf die Fragen der Brüder, was ihm fehle, erzählt er, dass er in den letzten Jahren in jeder Weihnachtsnacht eine Tochter verloren habe. Jetzt wäre nur noch die jüngste bei ihm, aber auch diese würde ihm wohl, wie die übrigen, geraubt werden. Denn alle Wachen, die er im Zimmer der Töchter gehabt hätte, würden in der Nacht von so tiefem Schlaf befallen, dass keiner desselben sich erwehren könne. Nun bieten sich die Brüder an, die Prinzessin vor dem gefürchteten Schicksale zu bewahren. Der Gutsingende hält in der Weihnachtsnacht durch schöne Lieder die Brüder lange wach, und der Gutwachende gibt genau auf alles acht. Endlich werden aber doch alle ausser ihm von tiefem Schlaf befallen. Da hört er Lärm und Donner draussen, ein Fenster wird zerbrochen, und das Licht erlischt. Schnell schüttet er das Pulver aus dem Säckchen auf den Boden, so dass es taghell wird. Er weckt die Brüder, und nun sehen sie, wie eine riesige behaarte graue Hand mit einer Eisenkrücke unter den Gürtel der schlafenden Prinzessin greift, um sie zum Fenster herauszuziehen. Da nimmt der Guthauende sein Schwert und schlägt mit einem Schlage die Hand bis zum Ellenbogen ab. Der Unhold draussen stösst ein furchtbares Geschrei aus, so dass alle im Schlosse erschreckt aus dem Schlafe fahren, und[179] verschwindet im Dunkeln. Sowie es hell wird, machen sich die Brüder auf, um die Blutspur zu verfolgen und vielleicht noch die anderen Prinzessinnen wieder zu entdecken. Nach langer Wanderung kommen sie an einen sumpfigen See. Sie setzen die Nussschale auf das Wasser und lassen sich vom Schiffe zum anderen Ufer hinübertragen. Nachdem sie hier wieder Blutspuren gefunden und verfolgt haben, kommen sie an einen steilen Felsen, auf dem hoch oben augenscheinlich eine Höhle sich befindet. Am Fusse des Felsens sind Frauenkleider zum Trocknen aufgehängt. Der Gutkletternde klimmt nun herauf und streut Sand auf das Fenster der Höhle. Sogleich hört er, wie drinnen jemandem befohlen wird, hinauszugehen, um die Kleider der Prinzessinnen nicht nass werden zu lassen. Ein junger Riese klettert hinunter und wird dann gleich von den Brüdern erschlagen. So geht es sechsmal. Endlich kommt unter Donner eine furchtbare Riesin heraus, um selbst das Zeug hereinzunehmen. Erst wie sie unten ist, sieht sie die Brüder, und dem Guthauenden gelingt es, ihr mit seinem Zauberschwerte den Kopf abzuhauen. Nun klettern alle mit Hilfe des Bruders den Felsen hinauf. Drinnen in der Höhle finden sie stöhnend einen halbtoten Riesen, dem der Unterarm fehlt. Sie töten ihn vollends und durchsuchen dann die Wohnung. Endlich finden sie in einer wolverschlossenen Seitenhöhle die fünf gestohlenen Prinzessinnen, fast verhungert und dem Tode nahe. Sie bringen sie nun zum Schlosse zurück, und jeder der Brüder heiratet eine Königstochter.

Árn. (II S. 471–3) bringt das gleiche Märchen nach der Erzählung eines Bauern aus Biskupstungur. Hier ist nur von fünf Brüdern die Rede. Sie erhalten ihre Namen durch eine alte Frau, der sie auf ihre Bitte etwas zu trinken gaben. Die Einleitung von den Eltern der Brüder fällt fort. – Dem Könige sind bisher nur zwei Töchter von seinen fünf Töchtern geraubt wor den. In der Weihnachtsnacht, als die dritte Prinzessin gestohlen werden soll, haut der Guthauende dem Räuber die Hand ab. Dann verfolgen sie sogleich die Spur bis an den Felsen, und klettern dann alle zusammen zu einer Höhle hinauf. Oben finden sie eine weinende Riesin, die ihnen erzählt, dass ihr Mann in der Nacht eine Hand verloren[180] habe. Sie versprechen ihn zu heilen, wenn die Riesin nicht zusehen und in der Zwischenzeit sich binden lassen wolle. Sie gibt es schliesslich zu und wird nun samt ihrem Manne getötet.

Eine dritte Fassung (Lbs. 536 4 to), die sonst in allen Hauptzügen mit der vorhergehenden übereinstimmt, berichtet, dass die sechs bis dahin namenlosen Brüder ihre Namen zugleich mit je einer wunderbaren Eigenschaft bekommen hätten, weil sie einem im Walde eingeschlafenen alten Manne in der Zwischenzeit das Holz gespaltet und zusammengesucht hatten. Nach dieser Version werden die sechs Königstöchter jedesmal gleich nach der Geburt gestohlen. Auch in dieser Erzählung wohnt das Riesenpaar auf hohem Felsen.

Eine vierte Variante dieses Märchens ist uns schon als eingeschobene Episode in dem Märchen von »der Königstochter, die in ein Pferd verwandelt war«, begegnet. Hier waren es drei Brüder, die die Prinzessinnen befreiten und zwar in der Gestalt von Riesen, die erst nach der Hochzeit zu Königssöhnen wurden.

In dieser isländischen Erzählung haben wir, in allerdings sehr verwischter Form, das Märchen von »den Menschen mit den wunderbaren Eigenschaften«. Über dieses ausserordentlich verbreitete Märchen ist Benfeys Aufsatz in seinen »Kleineren Schriften« II S. 94 ff. zu vergleichen. Aber während in all den Märchen, die hierhin zu zählen sind (z.B. fünfte Erzählung der Vetâlapañcaviçati, erste Erzählung des Ssiddi-kür, Strap. 7. Nacht 5. Fabel, Bas. 5. Tag 7. Märchen, Kreutzw. Nr. 3, Grundtv. I Nr. 17 etc.) erzählt wird, dass eine Anzahl von Menschen – und zwar entweder drei einander fremde Leute, oder drei, vier, fünf oder gar sechs Brüder – durch ihre wunderbaren Eigenschaften zusammen eine Prinzessin befreien und dann nachher darüber in Streit geraten, wer am meisten Anrecht auf ihren Besitz hat, weiss das isländische Märchen – dem Märchenprinzipe getreu, dass für jeden Helden die Erzählung mit einer Heirat enden müsse – diesen Streit dadurch zu vermeiden, dass statt der einen Prinzessin stets ebensoviele Prinzessinnen verhanden waren wie Brüder, die sie befreiten. Aus dieser Änderung heraus nimmt das isländische Märchen[181] dann einen ganz anderen Verlauf, wie die übrigen zu dieser Familie zu zählenden Märchen, so dass keine weiteren Parallelen zu ihm sich hier beibringen lassen.

Die Antwort der Mutter, dass sie wie der Vater einem Eichbaum entsprungen seien, erinnert an die primitive Vorstellung vom Ursprünge der Menschen, die bei manchen Völkern sich findet (vgl. Edda »Völuspá« Str. 17/8).

Die Zaubergaben, die den Brüdern zum Abschied von der Mutter gegeben werden, sind die gewöhnlich vorkommenden wunderbaren Gegenstände. Nur das Schiff scheint mir hier bemerkenswert, da es noch eine Erinnerung an die vielleicht ursprüngliche Form der Erzählung zu sein scheint. In den indischen Märchen kommt ein Schiff vor, das durch die Luft fliegt, in der mongolischen Bearbeitung ist daraus ein hölzerner Garuda geworden, im Italienischen verwandelt es sich schliesslich in ein wunderbares Schiff, das die Brüder zu der befreienden Prinzessin hinbringt, und in der ersten isländischen Erzählung wird ausdrücklich berichtet, dass die Brüder mittels ihres Schiffes über einen sumpfigen See fahren (zum wunderbaren Schiffe ist auch Skíðblaðnir zu vergleichen, Sn. Edda I S. 138).

Das regelmässige Stehlen der Prinzessinnen, bis dann endlich der Retter kommt, der dem Diebe den haarigen Arm bis zum Ellenbogen abschlägt, erinnert an Grendels Besuche in Heorot (Béowulf). Auch das Verfolgen der Blutspuren bis zur Wohnung des Unholds, dann zuerst das Erschlagen der übrigen Riesen, hierauf die Tötung des schon schwer Verwundeten, lässt sich gleichfalls mit dem siegreichen Kampfe Béowulfs gegen Grendel und Grendels Mutter vergleichen.

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 177-182.
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