[9] 1. Meskino Guerrino

Zur Zeit als diese Geschichte sich zutrug, gab es viele Könige in Italien. Da gab es einen König von Neapel oder Makkaronikönig, einen König von Calabrien oder Maiskönig, einen König von Sardinien oder Käsekönig.

In der Stadt Tarent regierte der Baron Milo von Anglato, als ein großer Krieg ausbrach. Tarent wurde erobert und der Baron mit seiner Gemahlin Lucia in den großen Turm gefangen gesetzt.

Sie waren erst ein Jahr verheiratet und hatten ein Knäblein, das kaum drei Monate alt war und Meskino Guerrino genannt wurde. Seine Amme floh mit ihm nach ihrer Heimat Konstantinopel, wo sie, seine Herkunft verschweigend, den schönen Knaben an den König von Konstantinopel verkaufte. Dieser überließ ihn der Amme, bis man sie verabschieden konnte. Meskino aber verblieb im Königspalast als Begleiter des Prinzen Alexander. Die beiden Jünglinge waren unzertrennliche Freunde. Man konnte sie für Zwillinge halten. Und auch[9] Elisa, die schöne Tochter des Königs, spielte gewöhnlich mit ihnen, bis sie achtzehn Jahre zählte.

Da fielen Feinde ins Land ein, und Alexander sollte Konstantinopel als Feldherr verteidigen. Weil er aber mutlos und zaghaft war, bat Meskino ihn, an seiner Stelle oder Seite kämpfen zu dürfen. Doch Alexander erwiderte: »Unmöglich, mein Bruder, du hast ja nie Kriegswaffen geführt!« Darauf zog er ins Treffen, während Meskino und Elisa vom Palaste aus zuschauten und sahen, wie Alexander zurückgedrängt wurde. Da lachte Meskino. Elisa aber sprach zornglühend: »Wie kannst du lachen, wenn wir verlieren? Bedenke, daß mein Vater dich als Sklaven gekauft hat und daß nicht einmal deine Herkunft und Sippe bekannt ist!« Meskino schwieg, und Alexander wurde gefangen genommen.

Am zweiten Tage der Schlacht stellte sich Meskino unerkannt in Ritterrüstung an die Spitze der Verteidiger und nahm bald die zwei tapfersten Gegner gefangen. »Gebt mir Alexander!« rief er den Feinden entgegen, »und ich schenke euch die zwei Ritter!« – »Sehr gern!« versetzten die Feinde, »wir schenkten euch gleich zwei Alexander für jeden!«

Als er dann ohne Waffen wieder im Palaste erschien und Elisa ihn fragte, wer der tapfere Held gewesen, der den Bruder befreite, antwortete er ausweichend: »Das kann ich nicht sagen«, und fügte für sich leise hinzu: »Sagte ich dir's, das hieße einem Trompeter eine Trompete in den Mund stecken, um es im Nu in der ganzen Stadt auszutrompeten.«

Nach glücklich beendigtem Kriege sprach Meskino, den Elisas Rede tief gekränkt hatte, zu Alexander: »Ich habe die Entscheidungsschlacht für dich gewonnen. Nun will ich in der Welt meine Herkunft und Sippe erkunden!« – »Ach, lieber Bruder, warum willst du uns verlassen?« versetzte Alexander weinend,[10] »ich wollte dir einen Teil unseres Reiches übergeben und meine Schwester dazu als Gemahlin.«

»Auch ich hatte gehofft, ihre Hand zu gewinnen. Alles Gute in mir war ihr zugewandt. Nun hat sich die Liebe in Haß verwandelt.«

Darauf verließ er Konstantinopel und zog als Kriegsheld wohlgerüstet hinaus in die Welt immer weiter und weiter. Im Walde bedrohten ihn Männer mit bloß einem Auge und viereckigen Köpfen, sowie Riesen und Zwerge und wilde Tiere, dergleichen er niemals gesehen. Über das Rote Meer fuhr er und schritt über das Eismeer. Dann traten ihm Menschen entgegen, die wie Tiere brüllten. Und immer ging er als Sieger aus dem Kampfe hervor. Zuletzt aber sprang ein Ungetüm, zweimal so groß als eine Kuh, wild auf ihn zu und warf ihn zu Boden. Und er stellte sich tot. Da leckte ihn das Tier an allen Körperteilen und Gliedern, um zu sehen, ob nicht noch Leben darin war. Als es jedoch bis zu den Füßen gelangt war, ergriff Meskino schnell seine Lanze und bohrte sie dem Ungeheuer tief in den Wanst, daß es umsank und furchtbar brüllend verendete.

Darauf zog er weiter und gelangte ans Ende der Welt, wo die Bäume der Sonne zum Himmel aufragten. Ihr Glanz war so blendend, daß Meskino nicht weiter zu gehen vermochte. Als er sie aber mit seinem scharfen Schwert umhauen wollte, rief ihm daraus eine Stimme entgegen: »Gemach, gemach! Halt ein, Meskino! Wo willst du hin?« – »Ich will meine Herkunft und Sippe erkunden!« – »Du wirst sie finden. Deine Eltern sind noch am Leben. Kehre um! Im Lande des Sonnenaufganges wirst du sie finden. Unterwegs wird ein Einsiedlergreis dir sagen, wohin du dich wenden mußt.« – – Da kehrte er um und erblickte auch bald in einer kleinen Grotte[11] den Einsiedler, der ihm auf seine Frage antwortete: »Nur in der Grotte der Feen kannst du genaue Auskunft erlangen. Ich rate dir aber, dich nicht an diesen Ort der Gefahr zu begeben; denn alle, die jene Grotte betreten, bleiben darin und sind verloren.«

»Meinetwegen,« entgegnete Meskino, »ich muß!« – – – »Nun dann alles Gute, mein Sohn! doch widerstehe jeder Versuchung! Man wird dich in der Grotte zu den verlockendsten Genüssen einladen. Rühre nichts an! Die seltensten Früchte wird man dir bieten, Erdbeeren und Kirschen im Winter und andere leckere Speisen. Hüte dich, davon zu essen! Auch viele schöne Frauen wirst du erblicken. Verliebe dich nicht! Und wollen sie dich liebkosen und mit ihrem Zauber betören, so sprich: Jesus von Nazareth, stehe mir bei!«

Der Weg zur Grotte führte ihn an einem Wirtshaus vorüber, durch einen dunklen Gang, den er mit einer Fackel durchschritt. An einer ganz engen Stelle mußte er über einen großen, vollgefüllten Sack hingehen, der sich vergeblich aufzurichten bemühte und stöhnte: »Wer tritt mich mit Füßen?« – »Wer bist du?« fragte Meskino erstaunt. – »Ich bin Mack«, antwortete der Vollsack. – »Wie kommt es, daß du hier liegst?« forschte Meskino weiter. – »Ich habe alle Ruchlosigkeiten der Welt vollbracht. Da wurde ich eines Tages zur Feengrotte gesandt. Aber man wollte mich nicht. So blieb ich hier liegen, auf daß jeder, der des Weges zieht, mich mit Füßen trete .... Doch zum Glück nur einmal; denn zurück aus der Grotte kommt keiner, auch du nicht!« – Unerschrocken weiterdringend, gelangte Meskino am Ende des Ganges zu einer mächtigen Pforte. Entschlossen klopfte er an. Zwei schöne Mädchen öffneten eiligst und begrüßten ihn freundlich: »Willkommen, Meskino, hoher Herr und Gebieter! Seit vielen Tagen schon erwarten wir[12] Eure Ankunft!« – – Er betrat nun die Grotte, deren lichte Pracht ihn mit Staunen erfüllte. Rings lagen und schwebten verlockende Frauen, die ihm mit holdseligem Lächeln zuwinkten, in ihrer Mitte zu weilen. »Bleibe hier! Küsse uns!« klang ihre singende Rede. Und sie umringten und liebkosten ihn. Sie pflückten ihm Rosen, deren Schönheit und Duft ihn berauschte. Sie boten ihm Früchte, wie er sie köstlicher niemals geschaut und wie sie die Jahreszeit nirgends zu spenden vermochte. Aber er widerstand der Versuchung. – – Jene Zauberinnen aber erschienen in Frauengestalt nur von Sonntag bis Donnerstag; denn am Freitag und Sonnabend waren sie reißende Tiere.

Plötzlich verlöschte der Strahlenglanz in der Grotte, und ein dämmerhaftes Grauen umgab den verwunderten Meskino.– –

»Was bedeutet dieser Wandel?« rief er aus. – »Das geschieht jede Woche, wenn die dunklen Tage beginnen«, belehrte ihn ein Greis, den er soeben erst an seiner Seite gewahrte. »Aber hüte dich nun vor der Feenkönigin!« fügte dieser schnell noch hinzu.

Da erschien sie auch schon. Ihre Augen strahlten gleich Diamanten, und durch sieben Schleier glühten ihre Wangen gleich dem leuchtenden Vollmond. »Deine Eltern sind noch am Leben. Im großen Turm zu Tarent sind sie eingeschlossen.« Dann wollte sie ihn in ihr Gemach hineinziehen. Einen Augenblick schien er auch zum Nachgeben bereit und sich willenlos ganz zu vergessen, als er zum Glück noch der Warnung des Einsiedlers gedachte und seine Worte wiederholte: »Jesus von Nazareth, stehe mir bei!« – – Da ließ die Fee von ihm ab, und er eilte zum Ausgang der Grotte. Die beiden schönen Mädchen, die ihn eingelassen hatten, begleiteten ihn bis zur Pforte und schrien ihm beim Öffnen hohnlachend noch zu: »Fahr zum Henker, Meskino! Wir wünschen dir zum Abschied, niemals deine Eltern zu finden!«[13] – »Grüßt mir dafür noch einmal eure Königin und sagt ihr, ich wies ihr die Hörner« – (Das ist die übliche Gebärde der Italiener, um sich von dem bösen Einfluß gefürchteter Personen oder Geister zu schützen.)

Auf dem Rückwege stieß Meskino wieder auf Mack, den er noch am alten Platze antraf. »Siehst du,« rief er dem Verwunderten zu, »ich bin wiedergekommen. Was soll ich der Welt von dir sagen?« – »Weder Gutes noch Schlechtes!« war die geheimnisvolle Antwort.

Nach längerem Wandern gelangte Guerrino nach Rom, das er gerade in Kriegsnot antraf. Er kämpfte für die Bedrängten und verhalf ihnen zum Siege. Allein, obgleich ihm die höchsten Würden und Ehren zuteil und blendende Aussichten eröffnet wurden, vermochte doch nichts, ihn zu halten. Mit wachsender Sehnsucht und Ungeduld verfolgte er sein Ziel.

Als er nun aber Tarent endlich erreichte, war die Stadt wieder in Feindeshände gefallen. Doch bald konnte unser Held als Befreier und Herrscher in ihre Mauern einziehen. – – Am großen Turme gebot er, zu halten. Das feste Tor ließ er öffnen und hieß die Gefangenen hervorgehen. Es war eine gewaltige Schar, Männer und Frauen, Greise und Jünglinge, die ihn mit Jubel begrüßten. Und er fragte sie alle: »Wer seid Ihr? Warum seid Ihr hier?« Doch die erwünschte Antwort gab keiner. Schon begann er bang zu verzagen, und immer leiser und ängstlicher erklang seine Frage: »Wer seid Ihr? Wie heißt Ihr?« –

Ganz zuletzt noch wankte ein ehrwürdiger, hinfälliger Greis mit seiner verhärmten Gemahlin herbei. Das ergraute Haupthaar des Alten bedeckte ihm Schultern und Rücken, sein schneeweißer Bart floß bis auf die Knie herab. »Wer seid Ihr, ehrwürdiger Greis?« –

»Der unglücklichste Mann von Tarent, Baron Milo von [14] Anglato, einst Herr dieser Stadt, und diese Frau hier ist Lucia, meine Gemahlin. Ein grausamer Feind hat uns besiegt und in den Turm werfen lassen.«

»Hattet ihr Kinder?« forschte Meskino. – »Nur einen Sohn, der erst drei Monate alt war. Doch haben wir nie wieder von ihm gehört. Gewiß ist er tot.« – – »Wie hieß er?« – »Meskino Guerrino, der kleine Kriegsheld, ward er genannt, weil wir den künftigen Retter in ihm erblickten.« – – »Dann sei Gott gelobt und gepriesen, teuerste Eltern! Meskino Guerrino bin ich! Und so habe ich nach langem Suchen endlich meine Herkunft erfahren und meine Eltern gefunden.«

Darauf erzählte er alle seine Weltfahrten, Taten und Erlebnisse, und in Tarent herrschte eitel Jubel und Freude. Und ein großes Dank- und Freudenfest wurde im ganzen Lande gefeiert.

Quelle:
Zschalig, Heinrich: Die Märcheninsel. Märchen, Legenden und andere Volksdichtungen von Capri. Dresden: Verlag Deutsche Buchwerkstätten, 1925, S. 9-15.
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