[108] 21. Die geraubte Prinzessin

Ein König besaß zwei kostbare Schätze: In seinem Palaste eine wunderschöne Tochter und in seinem Garten einen Baum mit goldenen Äpfeln.

Nicht weit davon, an einem verborgenen Orte, wohnte ein Zauberer. Der war so riesengroß, daß er die Früchte des königlichen Gartens über die hohe Mauer, die denselben umgab, leicht erreichen konnte. In der Tat raubte er jede Nacht einen goldenen Apfel und schließlich sogar die Tochter des Königs, die einmal in einer schönen Mondscheinnacht im Garten lustwandelte. Niemand wußte, wer der unheimliche Dieb war; denn niemand hatte ihn jemals kommen oder gehen sehen.

Da forderte der König alle unvermählten Prinzen und Ritter seines Reiches auf, dem Räuber aufzulauern. Wer es vermöchte, ihn zu überwältigen und seine Tochter zu befreien, sollte sie als[108] Gemahlin heimführen. – Sofort meldeten sich drei mutige Brüder, um ihr Heil zu versuchen.

Der älteste übernahm die Wache für die erste Nacht. Der Riese aber öffnete sein Zauberbuch, ließ eine einschläfernde Musik ertönen und stahl, während der jugendliche Wächter in süßem Schlummer lag, wiederum eine kostbare Goldfrucht. – Ebenso erging es dem zweiten Bruder. Der König war sehr ungehalten, als am Morgen abermals einer der herrlichsten Äpfel verschwunden war.

Allein der jüngste der Brüder, der nicht nur sehr mutig, sondern auch sehr klug und vorsichtig war, ging behutsamer zu Werke. Er verstopfte sich die Ohren mit Wachs, so daß er die Zaubermusik nicht hörte, während er, hinter der Mauer versteckt, den Räuber erwartete. Und als dieser wieder eine Frucht vom Baume brechen wollte, hieb er ihm mit seinem scharfen Schwerte die Hand ab und verfolgte ihn dann mit den Brüdern. Die Blutspur, der sie nachgingen, verlor sich in einer Waldschlucht am Eingang einer tiefen unterirdischen Höhle. Da drehten sie aus Schlingpflanzen ein langes, langes Seil und hingen daran einen Korb, in welchem der kühne Held in die Tiefe hinabstieg.

Unten angekommen, betrat er verwundert eine ganz neue Welt: Große Fluren, Gärten, Berge, Seen und Wälder mit allerlei seltsamen Tieren gewahrte er staunend, nachdem sich seine Augen an das wundersame Dämmerlicht der unterirdischen Räume, wohin weder Sonne noch Mond schien, gewöhnt hatten. Der Blutspur weiter folgend, gelangte er schließlich an eine goldene Pforte. Ohne zu zögern, drang er, da sein Klopfen unbeantwortet blieb, hinein, und vor ihm lag der Riese mit dem blutenden Armstummel kraftlos und unfähig, sich zu verteidigen. »Bis hierher«, stöhnte der Hilflose, »bist du mir gefolgt![109] Was willst du?« – »Die Tochter des Königs und das Zauberbuch, das du besitzest!« entgegnete der Jüngling. Und nachdem er beides erhalten, schlug er dem Machtlosen das Haupt ab.

Die Prinzessin dankte ihm aufrichtig und gelobte ihm, nach einem Jahre und drei Monaten die Seine zu werden. Aber sie wollte sich, um ihren Retter besorgt, nicht zuerst emporziehen lassen. Nur als ihr ritterlicher Befreier trotz all ihres Sträubens darauf bestand, fügte sie sich. – Sobald sie jedoch oben war, weigerten sich die Brüder, die dem Jüngsten die schöne Prinzessin nicht gönnten, den Korb noch einmal hinabzulassen, so daß der Unglückliche in der Tiefe blieb, ohne Hoffnung, das Licht der Sonne wieder zu schauen.

Um sich zu zerstreuen und zugleich seinen Lebensunterhalt abwechselnder zu gestalten, ging er fleißig auf die Jagd.

Eines Tages beobachtete er, wie über einem Felsen ein großer Raubvogel schwebte, um die Jungen eines anderen zu erbeuten. Schnell nahm er den Räuber aufs Korn und holte ihn mit einem wohlgezielten Musketenschuß herunter. Im selbigen Augenblicke kehrte der Vater der Kleinen, ein großer Adler, beutebeladen zurück. Seine Freude war groß und, um seinen Dank zu beweisen, erbot er sich, den wackeren Schützen wieder zur Oberwelt zu bringen.

Das war jedoch kein so leichtes Unterfangen, wie man meinen sollte. »Um dich zur Höhe emporzutragen,« versicherte er, »fehlt mir zur Zeit noch die Kraft. Da mußt du erst eine Kuh schlachten und sie in lauter kleine Stücke zerhacken. Diese Bissen füllst du dann in ein Faß, das du dir rechts an den Leib bindest, während du zur Linken ein Wasserfaß trägst. Wenn ich dann beim Hinaufsteigen Fleisch begehre, reichst du mir Wasser, und verlange ich Wasser, gibst du mir Fleisch. Doch[110] hüte dich, eins mit dem anderen zu verwechseln! Wenn du dich nur einmal versiehst, oder mein Verlangen nicht erfüllst, ist alle Mühe verloren, und du gelangst nimmermehr zum Ausgang!«

Sobald der Jüngling die gewünschten Reisevorräte herbeigeschafft hatte, begann der Aufstieg. Aber der Weg war steil und lang, und der Adler brauchte viel. Sie hatten ihr Ziel noch nicht ganz erreicht, als bereits alles Fleisch aufgezehrt war. Der unverzagte Heldenjüngling ließ sich nichts merken, und als er schon ganz dicht vor der Öffnung, durch die das liebe Sonnenlicht strahlend hereinbrach, noch einmal Wasser schöpfen sollte, ergriff er sein Schwert und hieb sich vom rechten Bein unbedenklich ein Stück Wade. Der gefräßige Raubvogel erfaßte es gierig, behielt es jedoch heimlich im Schnabel, um es beim Abschied unversehrt an der alten Stelle wieder anwachsen zu lassen; denn er wollte bloß das gute Menschenherz des Ritters noch einmal prüfen.

Darauf gelangten sie zum Ausgang und schieden als treue Freunde mit gegenseitiger Versicherung ehrlichen Dankes.

Und nun eilte unser Held nach dem Königshofe. Es war hohe Zeit, denn es galt, die unglückliche Königstochter noch einmal aus den Händen eines Räubers zu retten. Das war sein ältester Bruder, der ein Recht auf ihren Besitz zu haben behauptete, weil er die angeblich von ihm befreite Prinzessin ihrem Vater zurückgebracht hatte. – Schon wurden die letzten Vorbereitungen zur Hochzeit getroffen; aber noch hatte die hartbedrängte Braut, die von dem verhaßten Bewerber nichts wissen wollte, um Aufschub gebeten. Nicht eher wollte sie ihm ihre Hand reichen, bis die von ihr heimlich bestimmte Zeit um war. Ein Jahr und drei Monate hatte sie zu warten versprochen. Kein Mensch am Hofe hatte davon eine Ahnung; denn sie hatte[111] es keinem verraten, selbst nicht ihrem Vater. Wohl wurde ihr bange. Doch verzagte sie nicht: noch fehlten ziemlich drei Tage. –

Alle Prinzen und Ritter des Landes nebst den Damen und Herren der Hofgesellschaft waren schon zu den zahlreichen Festlichkeiten, die der Vermählung vorausgingen, erschienen. Zu ihnen gesellte sich nun auch der Verlorengeglaubte. Am Abend vor dem Hochzeitstage hatte sie noch den Einfall, die streitbaren Ritter aufzufordern, zur allgemeinen Unterhaltung ein siegreich bestandenes Abenteuer zu erzählen.

Die Brüder begannen mit Lügengeschichten, und besonders der älteste suchte seine Schandtat, durch die er die Königstochter in seine Gewalt bekam, als Heldentat zu verherrlichen. Mit schlichten Worten erzählte darauf der jüngste: »Ein König besaß eine wunderschöne Tochter und als Hauptzierde seines Gartens einen wunderbaren Baum mit goldenen Früchten. Aber ein riesenhafter Zauberer, der mit seinen langen Armen über die hohe Gartenmauer hineingreifen konnte, stahl dem König jeden Abend einen goldenen Apfel und zuletzt sogar seine Tochter, die der helle Mondschein einmal in den Garten gelockt hatte.

Als darauf der König die jugendlichen Ritter seines Reiches zum Kampf gegen den Räuber aufbot und dem Sieger seine Tochter zu geben versprach, erklärten sich drei Brüder zum gefährlichen Wagnis bereit. Die ältesten beiden wurden vom Zauberer durch Musik betört. Doch dem jüngsten gelang es, ihn zu überlisten.«

»Das ist nicht wahr!« unterbrachen ihn hier plötzlich die Brüder. »Er will uns ein Märchen aufbinden. Das ist langweilig. Niemand wird wünschen, es weiter zu hören.«

»Warum nicht?« meine Freunde, »ich finde die Geschichte sehr ansprechend«, entgegnete die Prinzessin mit strahlenden Augen. »Ich wünsche sie weiter zu hören.«[112]

Und als dann der tapfere Held den ganzen aufregenden Hergang von der Überlistung, Verfolgung und Tötung des Zauberers, von der Befreiung der Prinzessin und dem Verrat der Brüder, von den seltsamen Erlebnissen im unterirdischen Zauberreich und schließlich von seiner Errettung durch den dankbaren Adler wahrheitsgetreu berichtet hatte, reichte ihm die Königstochter ihre Hand und rief angesichts der staunenden Versammlung ihrem verwunderten Vater entgegen: »Das ist mein Befreier, der meinethalben soviel Gefahren siegreich bestanden und schwere Leiden geduldig ertragen hat. Ihn will ich zum Gatten! Die anderen sind Verräter, die den dunkelsten Kerker verdienen, wohin weder Sonne noch Mond scheint.« Dorthin wurden sie, in Ketten gefesselt, nun auch gebracht.

Und am folgenden Tage zu der von der Prinzessin vorausbestimmten Stunde, nachdem die drei Jahre und drei Monate um waren, wurde die Hochzeit der Treuvereinten in Herrlichkeit und Jubel gefeiert.

Quelle:
Zschalig, Heinrich: Die Märcheninsel. Märchen, Legenden und andere Volksdichtungen von Capri. Dresden: Verlag Deutsche Buchwerkstätten, 1925, S. 108-113.
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