[327] 50. Vom klugen Bauer.

Es war einmal ein König, der war auf die Jagd gegangen. Da sah er in einem Felde einen Bauer, der arbeitete. »Wie viel verdienst du wohl an einem Tage,« frug er ihn. »Königliche Majestät,« antwortete der Bauer, »vier Carlini den Tag.« »Was machst du denn damit,«[327] frug der König weiter. Der Bauer sprach: »Den ersten esse ich; den zweiten lege ich auf Zinsen; den dritten gebe ich zurück; und den vierten werfe ich fort.«1

Der König ritt seines Weges weiter; nach einiger Zeit aber kam ihm die Antwort des Bauers doch sonderbar vor; also kehrte er wieder um, und frug ihn: »Sage mir doch, was willst du damit sagen, daß du den ersten Carlino issest, den zweiten auf Zinsen legst, den dritten zurückgibst und den vierten wegwirfst?« Der Bauer antwortete: »Mit dem ersten Carlino ernähre ich mich selbst; mit dem zweiten ernähre ich meine Kinder, die für mich sorgen müssen, wenn ich einmal alt sein werde; mit dem dritten ernähre ich meinen Vater, und gebe ihm damit zurück, was er an mir gethan hat, und mit dem vierten ernähre ich meine Frau, und werfe ihn also fort, denn ich habe keinen Vortheil davon.« »Ja,« sprach der König, »du hast Recht. Versprich mir aber, daß du keinem Menschen dasselbe erzählen willst; nicht eher, als bis du mein Gesicht hundertmal gesehen hast.« Der Bauer versprach es, und der König ritt vergnügt nach Hause.

Da er nun mit seinen Ministern zu Tische saß, sprach er: »Ich will euch ein Räthsel aufgeben. Ein Bauer verdient vier Carlini den Tag; den ersten verzehrt er; den zweiten legt er auf Zinsen; den dritten gibt er zurück, und den vierten wirft er fort. Was ist das?« Es konnte aber keiner errathen.

Endlich dachte der eine Minister daran, daß der König den Tag vorher mit dem Bauer gesprochen hatte, und beschloß bei sich, den Bauer aufzusuchen, und sich die Lösung sagen zu lassen. Da er nun zum Bauer kam, frug er ihn um die Lösung des Räthsels. Der Bauer aber antwortete: »Ich kann sie euch nicht sagen; denn ich habe dem Könige versprochen, es niemanden zu erzählen, bevor ich nicht hundertmal sein Gesicht gesehen habe.« »O,« meinte der Minister, »des Königs Gesicht kann ich dir wohl zeigen,« und zog hundert Thaler aus seinem[328] Beutel, und schenkte sie dem Bauer. Auf jedem einzelnen Thaler aber war des Königs Gesicht zu sehen. Da der Bauer nun jeden Thaler einzeln betrachtet hatte, sprach er: »Jetzt habe ich hundertmal des Königs Gesicht gesehen; jetzt kann ich euch die Lösung des Räthsels wohl sagen,« und sagte sie ihm.

Der Minister aber ging vergnügt zum König und sprach: »Königliche Majestät, ich habe die Lösung des Räthsels gefunden; so und so lautet sie.« Da rief der König: »Das kann dir nur der Bauer selbst gesagt haben,« ließ den Bauer rufen, und stellte ihn zur Rede: »Hattest du mir nicht versprochen, es nicht zu erzählen, als bis du hundertmal mein Gesicht gesehen hättest?« »Königliche Majestät,« antwortete der Bauer, »euer Minister hat mir auch hundertmal euer Bild gezeigt.« Damit wies er ihm den Sack mit Geld, den ihm der Minister geschenkt hatte. Da freute sich der König über den klugen Bauer, und beschenkte ihn reichlich, daß er ein reicher Mann wurde sein Leben lang.

1

Unu n' iu manciu; unu lu scuntu; unu lu ristituiscio e unu lu jettu.

Quelle:
Gonzenbach, Laura: Sicilianische Märchen. Leipzig: Engelmann 1870, S. CCCXXVII327-CCCXXIX329.
Lizenz:
Kategorien: