[162] 86. Von dem frommen Kinde.

[162] Es war einmal ein frommer gottesfürchtiger Bauer. Der fand eines Tages im Felde ein armes kleines Kind liegen. »Ach, du unschuldiges Würmchen,« rief er, »welche nichtswürdige Mutter hat dich deinem Schicksale überlassen! Ich will dich mitnehmen und aufziehen.« Da nahm er das Kind mit und zog es auf, und seitdem er das Kind bei sich hatte, ging ihm Alles gut von Statten. Seine Bäume trugen reichlich schöne Früchte, das Korn und der Wein geriethen und der Bauer hatte sein gutes Auskommen.

Das Kind wuchs und wurde ein guter frommer Knabe; er war aber einfältig und wußte nichts von unserm Heiland und nichts von den Heiligen. Da er nun einmal mit Lehm spielte, bildete er daraus große und kleine Kugeln und reihte sie zu einem Rosenkranz auf, und brachte ihn ganz richtig zu Stande, und es fehlte auch kein gloria patri daran. Der Bauer, da er das sah, ward sehr verwundert und beschloß ihn einmal mit nach Catania zu nehmen. »Willst du mit mir kommen?« frug er ihn eines Morgens, »ich reite nach Catania.« »Thut, wie ihr wollt, Massaro,« antwortete der Knabe, und ging mit dem Bauer zur Stadt.

Als sie nun in die Nähe des Domes kamen, sprach der Bauer: »Gehe ein wenig in die Kirche hinein, bis ich meine Geschäfte beendet habe.« Da ging der Knabe in den Dom und sah alle die goldenen und seidenen Gewänder und die gestickten Altardecken und die vielen Blumen und Kerzen, und verwunderte sich sehr darüber, denn er hatte noch nie etwas Derartiges gesehen. Endlich kam er auch an den Altar, wo das Crucifix stand und kniete auf den Altarstufen nieder und redete das Crucifix an: »Cumpareddu1, warum hat man euch an dieses Holz genagelt? Habt ihr etwas Böses gethan?« Da nickte das Crucifix mit dem Kopf. »Ach, armer Cumpareddu, das müßt ihr nun nicht wieder thun, denn[163] seht wie viel ihr nun leiden müßt.« Und der Herr nickte wieder mit dem Kopf.

So trieb er es eine lange Zeit und redete mit dem Crucifix, bis die Messen alle aus waren, und der Sakristan die Kirchthüre schließen wollte. Da er nun den kleinen Bauernknaben da knien sah, bat er ihn, aufzustehen und die Kirche zu verlassen. »Nein,« antwortete das Kind, »ich bleibe hier, denn dieser arme Mann bleibt sonst ganz allein. Erst habt ihr ihn an das Holz genagelt, und nun überlaßt ihr ihn seinem Schicksal. Nicht wahr, Cumpareddu, ihr habt es gern, daß ich bei euch bleibe?« Und der Herr nickte mit dem Kopf. Da der Sakristan das hörte und sah, ging er voll Schrecken zum Canonicus und erzählte ihm Alles. Der aber sprach: »Das ist gewiß eine heilige Seele; lasset den Knaben gewähren und bringet ihm einen Teller Maccaroni und etwas Wein.« Als der Sakristan dem Knaben die Maccaroni und den Wein brachte, sprach er: »Setzet es nur dahin, ich werde gleich essen.« Dann wandte er sich zum Crucifix und sprach: »Cumpareddu, ihr seid wohl hungrig; wer weiß, wie lange ihr nichts gegessen habt. Nehmt ein wenig Maccaroni.« Da kletterte er auf den Altar und gab dem Herrn von seinen Maccaroni mit, und der Herr aß sie. Dann sprach er wieder: »Cumpareddu, ihr seid wohl auch durstig? Trinkt ein wenig von meinem Wein,« und gab dem Herrn auch von dem Wein zu trinken, und der Herr trank. Als er aber seine Speise und Trank mit dem Herrn getheilt hatte, fiel er um und war todt, und seine Seele flog zum Himmel und lobte Gott. Der Canonicus aber war hinter dem Altar versteckt, und als er den verklärten Leib des Knaben sah, ließ er in der ganzen Stadt verkündigen, es sei ein Heiliger im Dom, und ließ ihn in einen goldnen Sarg legen. Da kamen die Leute und sahen den verklärten Leib und beteten ihn an. Der Bauer aber kam auch und erkannte den kleinen Knaben, den er aufgezogen hatte, und dankte Gott, der ihm diese Gnade erzeigt hatte. Dann kehrte er in seine Wohnung zurück, und was er unternahm gelang, also daß er ein reicher Mann wurde.

Er that aber mit seinem Gelde den Armen viel Gutes, und lebte[164] ein heiliges Leben, und als er starb, erwarb er sich das Paradies. Und so möge es uns auch ergehen.

1

Diminutiv von Cumpare, Gevatter.

Quelle:
Gonzenbach, Laura: Sicilianische Märchen. Leipzig: Engelmann 1870, S. 162-165.
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