Das Märchen vom Schlaf.

[114] In der Provinz Genua lebte eine Witwe, die drei Söhne hatte, Francesco, Tonino und Angiolino. Angiolino wollte immer schlafen, nicht nur die Nacht, sondern auch den ganzen Tag. Die Brüder fingen an, die Mutter zu tadeln, indem sie sagten: »Mutter, es kann nicht so fortgehen mit unserem Bruder. Also überlegt, was man tun kann, denn wir sind sehr erzürnt gegen ihn.« – Die Mutter, die wie alle Mütter nachsichtig gegen ihre Söhne war, sagte: »Liebe Kinder, ich kann ihn nicht verstoßen, da er mein Sohn ist, so gut wie ihr. Versuchen wir, ihn zu verheiraten, dann wird er aufwachen.« – Die Brüder waren einverstanden, und Angiolino nimmt eine Frau. Am Morgen nach der Hochzeit wollte die Frau aufstehen, er aber sagte: »Was tust du?« – Und Carolina sagte: »Ich will aufstehen, damit deine Brüder nicht schelten können.« – »Nein, solange ich nicht aufstehe, hast du dich nicht von hier zu rühren.« – Die Brüder aber warteten, daß sie aufstehen sollten, aber sie mußten lange warten, denn vor der Essensstunde erschienen sie nicht im Saal. Da wurden die Brüder zornig und sagten zur Mutter: »Früher war er allein, jetzt sind sie zu zweien. Wir wollen nun unser Erbe teilen.« – Und so beschlossen sie, ihn fortzuschicken. Angiolino und Carolina nahmen ihre Habe und zogen fort nach der Hauptstadt des Reiches. In kurzem aber hatten sie alles, was sie besaßen, aufgezehrt und waren genötigt, sich in ein kleines Dorf zurückzuziehen, das an einem Flüßchen lag.

Eines Tages, da sie nichts zu essen hatten, sagte Angiolino zu Carolina: »Der Hunger hat mir auch den Schlaf vertrieben. Ich habe aber nachgesonnen. Da unten im Flusse gibt es Fische. Ich will da fischen, um zu sehen, ob ich Glück habe.«[115] – Damit nahm er das Netz und ging. Als er am Flusse war, warf er das Netz aus und zog. – »O Gott!« rief er, »was ist das für ein Fisch!« – Er kehrte geschwinde nach Haus zurück und rief: »Sieh nur, Carolina, was für einen Fisch ich gefangen habe!« – Voller Freude erwiderte Carolina: »Wir wollen ihn gleich verkaufen; dann können wir für eine Weile Eßvorräte kaufen, denn er ist ein solches Wundertier, daß kein Mensch je einen ähnlichen gesehen haben kann.« – »Nein,« antwortete Angiolino der Frau, »ich will gehen und ihn dem König zum Geschenk machen.« – Und so gingen sie beide nach der Stadt.

Als sie am Tor angelangt waren, riet die Frau wieder, ihn zu verkaufen, und sagte, dann könne man sich rascher den Schlaf vertreiben, als wenn man zum König ginge. – »Aber ich habe nun einmal beschlossen, ihn ihm zu bringen, und will ihn nicht verkaufen.« – Und die liebe Gattin mußte mit trocknem Munde vor dem Tore bleiben.

Als Angiolino aber beim ersten Eingang des Palastes angelangt war und dort die erste Schildwache gefunden hatte, fragte ihn diese: »Wohin gehst du und was willst du?« – »Ich will zum König und ihm dies Geschenk bringen. Darf man?« – Die Schildwache antwortete: »Wenn du mir die Hälfte der Belohnung geben willst, will ich dich einlassen. Wo nicht, kannst du dahin zurückkehren, von wo du gekommen bist.« – Da dachte Angiolino, von seiner Schlafsucht befallen, da er nachts zuvor nicht genug geschlafen hatte, nicht an die Tücken des schändlichen Soldaten, sondern bewilligte es und ging weiter.

Als er dann auf die Höhe der gewundenen Treppe gekommen war, fand er eine andere Wache. Auch diese fragte ihn, was er beim König wolle, und er antwortete wieder: »Ich will ihm ein Geschenk machen. Sieh hier, ich habe einen Fisch gefangen, dessen nur er würdig ist.« – »Wie? eine solche Seltenheit ist er?« – »Jawohl!« – »Aber wenn du mir nichtdie Hälfte der Belohnung, die er dir geben wird, abtrittst, laß' ich dich nicht weiter vordringen.« – Angiolino bewilligte auch das und ging weiter.

Als er dann in den Vorsaal gekommen war, fragte ihn dort gleich die dritte Schildwache, was er wolle. Er antwortete: »Ich will mit dem Könige sprechen.« – Der Soldat aber, dem schon die erste Schildwache einen Wink gegeben hatte, fing gleich von dem Anteil an dem Gelde an zu sprechen, das der König ihm geben werde. Inzwischen hatte sich Angiolino schon überlegt, was er tun wollte, bewilligte alles und ließ sich beim Könige melden. Sofort wurde er eingelassen. Als er dann vor Seiner Majestät stand, überreichte er ihm das Wundertier, und der König rief beim Anblick des Fisches: »Wo in aller Welt hast du ihn gefangen?« – Dann wurde die Königin gerufen, damit auch sie ihn sehen sollte, und der König fragte sie: »Sage mir, was soll ich ihm zur Belohnung geben für ein so großes Geschenk?« – »Man kann ihm jetzt hundert Scudi geben und später für ihn sorgen.«

Angiolino überlegte bei sich und antwortete dann: »Dies Geschenk nehme ich nicht an.« – »Oho! Was willst Du also?« – »Ich will hundert Hiebe mit einem Lederriemen.« – »Wie? Bist du verrückt oder stellst dich so?« – Da sagte die Königin: »Gib ihm hundert Scudi und schicke den Dummkopf weg!« – »Ich habe schon gesagt, daß ich hundert Peitschenhiebe will,« sagte Angiolino, »oder um es besser zu sagen: hundert Hiebe mit dem Ochsenziemer.« – »Nun,« sagte der König, »wenn du sie durchaus willst, sollst du sie bekommen.« – Er ließ vier Soldaten kommen und befahl ihnen, alles Nötige vorzubereiten, um ihm die Schläge im Saal zu geben, damit alle es mit ansehen könnten, ohne von den Stühlen aufzustehen.

In einem Augenblick war alles herbeigebracht, und alle riefen: »Dieser Mensch ist verrückt!« – Der König aber sagte: »Nehmt ihn und gebt ihm hundert Hiebe!« – »Ja, das ist[118] recht,« sagte Angiolino, »ich bitte aber noch um eine Gnade.« – »Was für eine Gnade willst du?« – »Sie sollen die erste Schildwache rufen lassen.« – Sogleich wurde sie gerufen, und in ihrer Gegenwart wurde Angiolino gefragt, was er von ihr wolle. – »Ich will,« antwortete er, »daß dieser Schurke die Hälfte von der Belohnung erhält, die Ew. Majestät mir geben will. Da ich sie angenommen habe, ist es gerecht daß er die Hälfte bekommt.«

Alle Zuschauer verwunderten sich, als sie aber die Tatsache erfahren hatten, wurde die Schildwache hingelegt und erhielt zu ihrer Schande fünfzig Hiebe und bei jedem Schlage sprang er wie ein Böcklein. Nachdem dieser bedient war, ließ Angiolino die zweite Schildwache kommen und sagte: »Auch dieser Schuft wollte mich zurückschicken, wenn ich ihm nicht ein Viertel der Belohnung versprach. Er soll fünfundzwanzig bekommen.« – Und so geschah's. – »Auch der aus dem Vorsaal muß belohnt[119] werden!« – Dieser zitterte wie ein Rohr, denn er hatte gehört, was vorgegangen war, plötzlich aber wurde er gerufen und empfing seine Belohnung wie die anderen.

Dann sagte der König: »Nun bleiben noch zwölf für dich.« – »Ja, es ist gerecht,« antwortete Angiolino, »aber ich will sehen, ob ich einen finde, der sie mir abkauft.« – Damit ging er weg, und als er durch verschiedene Straßen der Stadt gewandelt war, fand er einen Laden, wo man diese ledernen Peitschen verkaufte. »Was kosten sie?« fragte er. – »Zwölf Paoli eine.« – »Ich habe zwölf vom Könige,« sagte Angiolino. »Ich gebe sie Euch für drei Paoli.« – »Ich nehme sie.« – »Aber Ihr müßt mit mir kommen.«

Als sie in den Saal gekommen waren, sagte Angiolino: »Das ist der Mann, der die Lederriemen gekauft hat.« – Der König lächelte und sagte: »Du bist also der, der sie gekauft hat?« – »Ja, Ew. Majestät.« – »Und für wieviel?« – »Drei Paoli.« – Da sagte der König, sie sollten ihm die zwölf Hiebe geben. Er aber rief: »Ich habe die Riemen gekauft, nicht die Schläge!« – Er hatte aber einmal gesagt, daß er sie gekauft habe, und nun half nichts, er mußte sie empfangen und bezahlen. Alle, die Zuschauer gewesen waren, stimmten darin überein, dem Angiolino und seiner Frau sollten zur Belohnung täglich fünf Lire gezahlt werden, und damit sollten sie fröhlich nach Hause gehen. Das geschah denn auch, und sie luden die Mutter und die Brüder ein und genossen alle ein friedliches Leben.

Quelle:
Heyse, Paul: Italienische Volksmärchen. München: I.F. Lehmann, 1914, S. 114-120.
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