Vorwort.

[5] Schon im Jahre 1845 erschienen italienische Volksmärchen in deutscher Übersetzung, in H. Kletke's großem »Märchensaal aller Völker für Jung und Alt. (Berlin. Carl Reimarus)«. Ihm folgte 1870 eine in Messina geborene Deutsche, Frl. Gonzenbach, die 92 sizilische Märchen aus dem Munde einfacher Frauen und Mädchen sammelte und trefflich übersetzte. Auch dieses Buch aber drang nur in die Kreise der Gelehrten, die sich um die Erforschung volkstümlicher Überlieferungen bemühten, nicht in deutsche Familien als Lektüre der Kinder, da es sein Herausgeber, Otto Hartwig, mit einem so großen wissenschaftlichen Rüstzeug versehen hatte, daß das zweibändige Werk es schon durch seinen Umfang von der Kinderstube ausschloß.

Das Interesse an ihrer Volkspoesie ist seitdem bei den italienischen Gelehrten stetig gewachsen. In jeder Provinz hat man sich beeifert, was noch an Märchen und Sagen im Volke fortlebt, zu sammeln und in die große Literatur der »folkloristischen« Wissenschaft einzureihen. Im 6. Bande der 1870 von Domenico Comparetti's und Aless. d'Ancona's begonnenen Canti e racconti del popolo italiano (Hermann Loescher, Turin-Florenz) finden sich 70 Märchen, von denen ich 19 auswählte. Ich fügte aus Vittorio Imbriani's Novellaja Fiorentina (Livorno 1877) noch fünf hinzu und ein Märchen eines neueren Dichters, Luigi Capuana, aus seinen Fiabe1 (Mailand 1882).

In der Übersetzung habe ich mich so treu als möglich an das Original gehalten, und während Wilhelm Grimm in den Kinder- und Hausmärchen sein dichterisches Feingefühl walten[5] ließ, indem er die mündlichen Mitteilungen seiner Märchenfrau zuweilen der Feile oder gar bedeutenden Änderungen unterzog, gab ich den fremden Text ohne jede eigene Zutat oder Redaktion wieder, selbst wo die Wirkung sich mit wenigem hätte erhöhen lassen oder offenbare Mängel, die mit jeder mündlichen Tradition verbunden sind, leicht zu beseitigen waren. Eine solche Freiheit hätte mich zu weit geführt, so daß ich diese ausgegrabenen Fundstücke lieber mit allen anhängenden Spuren ihrer Herkunft den jungen Lesern überliefere, als die Freude an der kunstlos schweifenden Phantasie des Volkes ihnen verkümmern wollte.


München, im März 1914.

Paul Heyse.

1

Das Wort für Märchen ist im Italienischen Fiaba oder novella.

Quelle:
Heyse, Paul: Italienische Volksmärchen. München: I.F. Lehmann, 1914, S. 5-6.
Lizenz:
Kategorien: