[106] Der geraubte Schleier.

[106] Da lebte einmal ein Jüngling, der führte schon lange ein recht armseliges Hundedasein und war verzweifelt an sich und der Welt. Eines Tages, wie er so gar nichts zu essen hatte, auch noch keinen Tropfen Wasser getrunken, setzte er sich am Strande des Meeres nieder, zu warten, ob ihm nicht irgendwie das Glück blühe. Wie er so eine Zeit lang gesessen, näherte sich ihm ein Mann aus dem Morgenlande, der sprach: »Was fehlt dir, schöner Knabe, daß du hier sitzest und Trübsal bläsest?« Der Jüngling antwortete: »Was soll ich haben? Hunger hab' ich und nichts zu essen, und alle meine Hoffnung ging schon längst zunichte.« – »O, mein Sohn«, erwiderte der andere, »sei fröhlich und wohlgemuth, du gehst mit mir, ich gebe dir zu essen und zu trinken, Geld und Gut und alles, was dein Herz nur begehrt.« Da erwachte im Knaben neuer Muth und er ging mit dem Fremden. Sie wanderten hierhin und dorthin und kamen zuletzt an den Fuß eines Berges. Dort schlug der Mann mit einem Stabe auf die Erde, diese öffnete sich und hervor kam ein geflügeltes Roß. »Dieses besteigst du«, sagte der Mann aus dem Morgenlande zum Jüngling, und dann: »Siehst du den Gipfel[107] des Berges? Dort finden sich große Schätze an Gold und köstlichen Steinen, mit diesen beladest du das Roß und auf ein Zeichen bringst du sie zu mir.«

So geschah es: der Knabe bestieg das Flügelpferd und im Fluge war er droben. Da lagen denn auch die Schätze: Goldbarren, Demanten, Brillanten, in Menge aufgehäuft, daß man sich gar nicht satt daran sehen konnte. Auch der Jüngling stand und staunte, belud aber schnell das Pferd damit, und wie ihm der Mann aus dem Morgenlande das Zeichen gab, setzte er sich darauf und flog hinab. Der Mann lobte ihn ob seiner Kühnheit und schickte ihn noch zweimal hinauf, indem er das letzte mal sagte: »Geh, und was du jetzt findest, ist dein.« Er hatte gehorcht und war eben daran, das Pferd zum dritten mal zu beladen, als der Mann das Zeichen mit dem Stocke gibt, worauf das Pferd hier oben und der Mann unten in einem Nu verschwanden. Nun war er oben und konnte nicht mehr hinunter, denn der Berg war hoch. So fing er denn auf gut Glück zu gehen an, hierhin und dorthin, und findet eine Alte, die ihn fragt: »Wohin, schöner Knabe, und was thust du in dieser Gegend?« Darauf erzählt er ihr seine Geschichte und die Tücke des Mannes aus dem Morgenlande. »Genug, genug«, rief die Alte, »den Mann kenne ich, jedes Jahr schickt er einen hier herauf und läßt ihn dann oben, unbekümmert um sein Geschick. Komme mit mir, ich mache dich reich und glücklich.« Da dachte der Knabe bei sich: »Auch die will mich reich machen; sollte es aber gehen, wie das erste mal, so erwürge ich die alte Hexe.«

Sie gingen ein Stück und kamen an einen schönen Brunnen, da sagte sie ihm: »Siehst du diesen Brunnen?[108] Nun merke wohl auf! Hierher kommen jeden Tag zwölf Tauben, um zu trinken. Nachdem sie getrunken, werfen sie sich ins Wasser und werden zu zwölf schönen Mädchen, so schön wie die Sonne, mit Schleiern vor dem Gesicht. Du hältst dich in der Nähe versteckt und wirst sie miteinander spielen sehen. Wenn sie mitten im besten Spielen sind, entreißest du der Schönsten den Schleier und birgst ihn schnell auf der Brust. Dann aber darfst du dich nicht erweichen lassen, wenn sie bittet und fleht: ›Gib mir den Schleier, meinen Schleier gib mir zurück!‹ Denn wisse, bekommt sie den Schleier, so wird sie alsbald wieder zur Taube, schwingt sich auf und fliegt den andern nach.«

So hatte die Alte gesprochen, und der Jüngling verbirgt sich an einer Stelle, wo er nicht gesehen werden konnte, und erwartete in Schweigen den nächsten Tag. Der nächste Tag kam, und wie die Stunde sich nahte, wo die Tauben kommen sollten, hörte er ein Geräusch wie Flügelschlagen, das kam näher und näher, und wie er aufschaut, sieht er einen Flug Tauben. Da bückt er sich und sagt: »Stille, stille, sie sind es!« Die Tauben ließen sich am Brunnenrande nieder, tauchten ihre Schnäblein ein und warfen sich dann ins Wasser und wurden zu zwölf Jungfräulein, so schön, daß sie wie Engel vom Himmel aussahen. Nun begann auch das Spiel voll Anmuth, ein Neigen und Beugen herüber und hinüber, das war eine rechte Lust zu schauen.

Doch der Augenblick war gekommen: kühn springt der Jüngling aus seinem Versteck hervor, entreißt einer der Schönen den Schleier, steckt ihn in ein Kästchen, das die Alte ihm gegeben, und birgt dieses auf der Brust. Da wurden alle Jungfrauen wieder zu Tauben und schwangen[109] sich in die Luft bis auf eine, die voller Angst hin- und herlief und den Jüngling in einem fort nun bat: »Gib mir den Schleier, gib mir meinen Schleier wieder!« Er aber antwortete: »Krähe nur, du süßes Hähnchen, dein Stimmchen ist gar zu schön!« Die Alte hatte ihm auch schon den Weg nach Hause gezeigt, und so kam er wieder zu seiner Mutter. Zu der sagte er: »Liebe Mutter, hütet mir des Mädchens wohl, das rathe ich Euch, käme sie weg, so würde es unser Unglück sein.« Sie aber beruhigte ihn und sprach: »Schon gut, schon gut! Ist doch niemand hier, der sie fortschicken möchte.«

Das schöne Mädchen blieb jetzt mit der Mutter allein und lag dieser den ganzen Tag in den Ohren mit der Bitte: »Gib mir den Schleier, gib mir den Schleier!« Endlich hatte die Mutter das Bitten satt und konnte es nicht länger mehr mit anhören. Sie sprach: »Gleichst du mit deinen unausgesetzten Bitten doch einer Schelle ans Ohr gebunden, ich ertrag's nicht mehr, du sollst deinen Schleier haben.« Sie durchsucht die Truhe und findet ein Kästchen, öffnet es und findet einen Schleier darin. Sie zeigt ihn dem Mädchen: »Vielleicht ist es dieser, meine Tochter?« Kaum erblickt diese den Schleier, so windet sie sich ihn um den Kopf, wird zu einer Taube, schwingt sich zum Fenster hinaus und verschwindet.

Die Alte war wie vom Blitz getroffen; voll Verzweiflung rief sie: »Was fang' ich jetzt an, was thu' ich, wenn mein Sohn zurückkehrt und sein Mädchen nicht mehr findet?« Und da war der Sohn auch schon an der Thür, tritt herein und findet das Mädchen nicht mehr. Da faßt ihn Verzweiflung, er läuft hinaus und sucht den Ort, wo er den Mann aus dem Morgenlande zuerst gefunden ... Kurzum: noch zweimal machte er[110] dasselbe durch, zweimal bestieg er auf dem Flügelrosse den Berg, zweimal verschwand es und zweimal noch lehrte ihn die Alte, den Schleier zu rauben. Beim dritten male endlich hatte ihm diese gesagt: »Unglückseliger! Du wußtest, wie alles kommen mußte, und hast dich nicht gehütet; so höre, wie du es jetzt anzufangen hast. Sobald der Schleier in deinen Händen ist, bringe ihn mir, ich werde ihn besorgen.« So that er, kaum hatte er den Schleier entwendet, trug er ihn zu der Alten, welche ihn sofort verbrannte. Jetzt konnte er ruhig sein, dankte der Alten und führte die Jungfrau nach Hause. Dort angekommen, fragte er sie, wessen Tochter sie wäre, und sie antwortete, sie sei die Tochter des Königs von Spanien. Wie der Jüngling dies hörte, wurde sein Herz voll Freude und er dachte: »Jetzt werde ich reich!« Was that er also? Er reist mit dem Mädchen fort und geht geraden Wegs zu ihrem Vater, dem Könige von Spanien. Im Palaste angekommen, läßt er ihm melden, es sei ein Jüngling da, der ihm seine Tochter zurückbringe. Voll Freude gibt der König den Befehl, die beiden vor ihn zu lassen. Wie freute er sich erst, da er seine Tochter erblickte! Zwölf Jahre lang hatte er sie nicht gesehen, und umarmte und küßte sie jetzt, wie nur ein Vater seine Tochter küssen kann. Sofort auch wurde ein großes Fest gerüstet, und dann wollte er den Retter seiner Tochter belohnen, das that er, indem er ihm dieselbe zur Frau gab. Und wie er hörte, der Jüngling habe auch seine Mutter noch, ließ er diese kommen und sie mußte mit ihnen im Palaste wohnen.


Zufrieden und glücklich lebten jene,

Und wir, wir stochern uns die Zähne.

Quelle:
Kaden, Waldemar: Unter den Olivenbäumen. Süditalienische Volksmärchen. Leipzig: Brockhaus 1880, S. 106-111.
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