16. König Liwjatan.1

[25] Ein Vater hatte in seiner letzten Stunde seinem Sohne das Versprechen abgenommen, täglich ein Stück Brot in's Wasser zu werfen2. Es werde ihm am Ende grosses Glück bringen.

Der Sohn hielt sein Versprechen getreulich, und stets war es ein und derselbe Fisch, der sich das Brot holte. Davon wurde er so gross und stark, dass ihn die anderen Fische, die ihn beneideten, bei Liwjatan, dem Könige der Fische3, verleumdeten: »Wie lange noch, und er ist so mächtig, wie du?«

Da befahl Liwjatan jenem Fische, seinen Wohlthäter zu verschlingen und vor seinen Thron zu bringen. Kaum war aber dies geschehen, so verschlang er ihn selbst. Als er jedoch hörte, weshalb er, als getreuer Sohn, jenen Fisch hatte füttern müssen, liess er ihn sogleich wieder an's Land bringen. Hier schlief der Gerettete vor Müdigkeit ein.

In seinem Halbschlummer konnte er zwei Krähen sich unterhalten hören. Denn Liwjatan hatte ihm zum Lohne für seine Kindestreue jede, auch die Vogelsprache beigebracht4.[25] Die eine Krähe wollte ihm, den sie für tot hielt, die Augen aushacken. Doch die andere, ihr Vater, warnte sie davor. Trotzdem flog die ungehorsame Krähe auf den gehorsamen Sohn, doch die ser griff rasch zu und wollte ihr den Hals umdrehen5. Die andere bat ihn aber inständig um das Leben ihres Kindes und zeigte ihn dafür unter einem Baume einen grossen Schatz. So ging des Vaters Verheissung in Erfüllung.

1

Maa. 194. H. 22.

2

Vgl. Qoh. 11, 1.

3

o. der is der melekh über all die fisch, wie mir nun wohl in die sĕforim (Bücher) finden. Vgl. Jalqut Jona.

4

Liwjatan als Sprachenlehrer auch Bodl. 3752.

5

Vgl. Gri. III, 196 (N. 107: Die Krähen).

Quelle:
Märchen und Sagen der deutschen Juden. In: Mitteilungen der Gesellschaft für jüdische Volkskunde, herausgegeben von M. Grunewald, Heft 2 (1898) 1-36, 63-76, S. 25-26.
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