LVI. Der Bursch, der beim König diente.

[253] (Aus Tanen.)


Es war einmal ein Bursch, der bei einem König diente. Derselbe hatte dem König schon so viele Dienste geleistet, daß dieser ihm schließlich seine Tochter zur Frau versprach. Als aber die Hochzeit stattfinden sollte, reute es den König doch und er sagte zu dem Burschen:

»Du bekommst meine Tochter nicht früher, als bis du vom Grunde des Meeres einen goldenen Becher heraufgeholt hast, den ich verloren habe!«

Der Bursch wußte nichts Besseres zu thun, als zur Gieddagäts-Alten zu gehen und dieselbe um Rath zu fragen.

»Wer klopft an meine Thür?« fragte das Zauberweib.

»Ich bin es!« sagte der Bursch; er wußte, daß sie ihn an der Stimme erkenne.

»Was für ein Anliegen hast du?« fragte die Alte.

»Ich soll den goldenen Becher des Königs aus dem Meeresgrunde heraufholen. Kannst du mir keinen Rath geben?«

»Geh' hinaus auf's Feld«, sagte die Alte, »und trenne Alles, was zusammenhängt!«

Der Bursch ging von dannen und es dauerte nicht lange, so sah er zwei Lummen, die mit dem Schnabel zusammenhingen[254] und nicht von einander loskommen konnten. Da trennte sie der Bursch von einander.

»Wohin willst du gehen?« fragten die Lummen.

»Ich soll einen goldenen Becher, den der König verloren hat, vom Meeresgrunde heraufholen, und weiß mir nicht zu helfen«, sagte der Bursch.

»Da du gut gegen uns gehandelt und uns von einander getrennt hast, wollen wir dir helfen«, sagten die Lummen.

Sie tauchten Beide dreimal unter; aber erst das dritte Mal konnten Sie den goldenen Becher finden; sie übergaben ihn dem Burschen und dieser brachte ihn dem König:

»Hier hast du deinen goldenen Becher, den ich vom Grunde des Meeres heraufgeholt habe!«

»Du bekommst trotzdem meine Tochter noch nicht«, antwortete der König, »bevor du nicht alle wilden Thiere des Waldes in meiner Burg zusammenbringst!«

Der Bursch ging wieder zur Gieddagäts-Alten und klopfte an die Thür.

»Ich bin es!« antwortete der Bursch.

»Was willst du?«

»Ich soll alle wilden Thiere des Waldes in die Königsburg zusammenbringen!«

»Geh' hinaus auf's Feld«, sagte die Alte, »und trenne Alles, was zusammen hängt!«

Der Bursch ging fort und sah bald zwei Wölfe, die mit den Schwänzen zusammen hingen und sich nicht von einander losmachen konnten. Der Bursch befreite sie von einander.

»Wohin willst du gehen?« fragten die Wölfe.

»Ich soll alle wilden Thiere des Waldes in die Königsburg zusammenbringen und weiß mir nicht zu helfen!«

»Da du uns geholfen hast«, sagten die Wölfe, »so müssen auch wir dir wieder helfen!«[255]

Der Bursch setzte sich und inzwischen trieben die Wölfe alle Arten von wilden Thieren für ihn zusammen. Hierauf jagten sie dieselben vereint in die Königsburg.

»Du bekommst meine Tochter noch immer nicht«, sagte der König; »sondern erst, wenn du meinen Feind, den Riesen, tödten und mir sein Schwert bringen kannst, sollst du sie erhalten!«

»Das ist der gewisse Tod«, sagte der Bursch; »aber ich will es gleichwohl versuchen!« und er eilte rasch wieder zur Gieddagäts-Alten.

»Was willst du?«

»Ich soll dem Riesen das Leben nehmen!«

»Geh' und biete dich ihm als Diener an, dann wird sich Rath finden!« Der Bursch that dies.

»Brauchst du einen Knecht«, sagte der Bursch, »so kannst du mich haben!«

»Warum nicht?« meinte der Riese.

»Was wollen wir zuerst in Angriff nehmen?« fragte der Bursch.

»Ah«, sagte der Riese, »ich möchte gern' Balken zuhauen, um mir ein Haus zu erbauen!«

So gingen sie denn in den Wald, hieben einen großen Balken zu und sollten nun denselben mit sich nehmen. Früher aber hieb sich der Bursch noch eine lange Stange zu und machte das eine Ende derselben so scharf wie eine Ahle.

»Was willst du mit der Stange?« fragte der Riese.

»Sie dir in die Augen stechen, wenn du dich umsiehst«, sagte der Bursch.

Der Riese erfaßte nun den Balken und zog ihn hinter sich her; der Bursch aber setzte sich rittlings auf das hintere Ende.

»Ah, oh, das ist schwer!« stöhnte der Riese.

»Schwer ist es?« sagte der Bursch; »ich, der ich doch so klein bin, finde durchaus nicht, daß es so schwer ist; aber du,[256] du bist groß, und hast trotzdem nicht mehr Kraft in dir als ein altes Weib!«

Der Riese zog, so daß er Blut spuckte; aber auch jetzt noch schien es dem Burschen, daß es viel zu langsam vorwärts gehe. Endlich kamen sie des Abends dahin, wo das Haus erbaut werden sollte. Der Riese war müde und legte sich zur Ruhe. Mitten in der Nacht stand der Bursch auf und stach dem Riesen mit der Stange, die er zugespitzt hatte, die Augen aus. Hierauf lockte er ihn auf einen hohen Berg und stürzte ihn von hier in einen See hinein, so daß er ertrank. Dann nahm er dessen Schwert und ging zum König. Nun war nichts mehr zu thun. Die Hochzeit wurde abgehalten, der Bursch bekam das halbe Reich, und als der König starb, erhielt er das ganze.

Quelle:
Poestion, J. C.: Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Wien: Verlag von Carl Gerolds Sohn, 1886, S. 253-257.
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