1.

[185] In der Tschudenzeit lebte ein Mann, der einen Sohn und eine Tochter besaß. Eines Tages hatte er im Walde zu thun; als er im Begriffe war, fortzugehen und schon die Hütte verlassen hatte, sagte er zu Sohn und Tochter, die am Flusse spielten:

»Geht hinein Kinder und sagt eurer Mutter, daß sie, so lange ich fort bin, keine Späne hinaustragen und in den Fluß werfen soll!«

Hierauf ging er fort. Aber sei es nun, daß die Kinder ihrer Mutter ausrichteten, was der Vater ihnen aufgetragen, oder sei es, daß sie es nicht thaten, genug, die Mutter trug kurze Zeit darauf einen ganzen Arm voll Späne aus der Hütte und warf dieselben in den Fluß. Sodann kam sie wieder zurück und dachte an keine Gefahr.

Die Kinder spielten wieder am Ufer. Weit unten am Flusse aber hatte eine Horde von Tschuden ihr Lager aufgeschlagen. Als nun einer von diesen aus dem Flusse Wasser holte, bemerkte er, daß Späne mit dem Strome herabgetrieben kamen.

»Es giebt Leute weiter oben am Flusse!« sagte er, als er wieder zur Feuerstelle zurückkehrte.

»Woher weißt du das?« fragten ihn die Anderen.[185]

»Es kommen Späne mit dem Strome herab!«

Hierauf brachen sie auf und wanderten längs des Flußufers stromaufwärts, bis sie an den Ort kamen, wo die Lappenhütte stand. Die Kinder spielten noch am Ufer. Einer der Tschuden ging auf die Kinder zu und fragte:

»Was macht ihr da, Kindlein?«

Der Knabe und das Mädchen fürchteten sich aber und ergriffen die Flucht; sie liefen zur Mutter hinein und riefen:

»Anna, anna, narod puedi! Mutter, Mutter, es kommen Leute!«

Die Alte ging hinaus, grüßte die Männer und sagte:

»Seid doch so gut, ihr fremden Männer, und kommt in die Hütte herein!«

Hierauf setzte sie den Kessel an's Feuer, kochte Speise und lud die Männer ein, zu essen.

»Seid doch so gut und eßt, fremde Männer; verschmäht es nicht, wenn ihr Lust habt!«

»Ist der Hausherr nicht daheim?« fragten die Tschuden.

»Er kommt gleich« antwortete die Alte.

Die Kinder waren wieder hinausgegangen und spielten vor der Thüre. Nun kam der Hausherr zurück. Der Knabe lief ihm entgegen und sagte:

»Vater, was sind denn das für Leute, die gekommen sind?«

»Leute!« rief der Vater erschreckt; »so hat die Mutter Späne in den Fluß geworfen?«

»Ja, die Mutter hat Späne hinausgetragen und in den Fluß geworfen«.

»Na, was sie gethan hat, das hat sie gethan!« sagte der Mann.

Mit diesen Worten ging er selbst in die Hütte hinein und begrüßte die Fremden:

»Willkommen, fremde Männer! weßhalb eßt ihr nicht? Kommt und eßt, meine Gäste! verschmäht es nicht, wenn ihr Lust habt!«[186]

Hierauf begann er selbst zu essen und nun aßen die Tschuden auch. Als sie gegessen hatten, sollten sie sich schlafen legen. Bevor sie sich aber niederlegten, ergriffen sie den Mann und banden ihn an die Thürschwelle fest. Sodann begaben sie sich zur Ruhe und schliefen.

Als sie eine Weile geschlafen hatten, erwachte einer von ihnen und zwar der größte der Tschuden und sagte zu dem Manne:

»Na, du Mann, hast du gut geschlafen? Was hat dir denn geträumt?«

»Lieber Freund« sagte der Mann, »wie sollte ich angenehme Träume haben können, da ich hier angebunden liege? Aber sag' du, Bester, der du bei meiner Frau geschlafen hast, was hat denn dir geträumt!«

»Ah, ich ... ich träumte, daß acht Raben kamen und mir die Augen aushackten! Aber was träumtest du?«

»Ich träumte«, antwortete der Mann, »daß ein Rabe acht anderen Raben die Augen aushackte!«

»Ah, Dummheiten!« meinte der Tschude, »ein Rabe hackt dem andern nicht die Augen aus!«

Hierauf schlief der Tschude wieder weiter. Als derselbe in tiefem Schlafe lag, streckte der Mann sich so weit vor, daß er einen Säbel erreichen konnte, den die Tschuden abgelegt hatten. Mit diesem durchschnitt er seine Bande, stand auf und hieb nun einem Tschuden nach dem andern den Kopf ab, bis er mit allen fertig war. Sodann nahm er ihnen die Geldgürtel ab, trug die todten Körper an's Ufer hinab und warf sie in den Fluß. Als er zurückkam, begann er mehrere lange Holzstecken zuzuschneiden.

»Was schnitzest du denn da, Vater?« fragte der Knabe.

»Speiler, um das Fell von einer alten Renthierkuh und einem einjährigen Kalbe aufzuspeilern« sagte der Vater.

»Nein, Vater!« sagte der Knabe, »das ist nicht wahr, du hast mich zum Besten!«[187]

»Ich habe dich nicht zum Besten!« entgegnete der Vater, »geh' hinein und sag' deiner Mutter, sie soll zu mir heraus kommen«.

Als die Alte hinauskam, ergriff sie der Mann und speilerte sie an die Wand der Hütte. Hierauf nahm er die Tochter bei der Hand, ließ sie aber wieder frei und ging auf und ab, als ob er unschlüßig sei, was er thun sollte. Sodann ergriff er die Tochter wieder und speilerte auch sie an die Wand indem er sagte:

»Wo deine Mutter ist, da kannst auch du sein!«

Der Knabe heulte und weinte.

»Du brauchst nicht zu weinen« sagte der Vater, »du darfst bei mir bleiben.«

Hierauf ging er wieder in die Hütte hinein und begann zu essen; als er fertig war, stand er auf und ging zum Ufer hinab. Hier nahm er ein Boot und ruderte nach der anderen Seite hinüber. Sodann zog er das Boot an's Land und wanderte mit dem Knaben weiter. Sie gingen und gingen, bis sie in das Dorf kamen, und hier lebten sie nun die übrige Zeit hindurch.

Quelle:
Poestion, J. C.: Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Wien: Verlag von Carl Gerolds Sohn, 1886, S. 185-188.
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