Die wandernde Seele.

[69] Zwei Hirten hüteten einst das Vieh ihres Herrn und vereinbarten, daß sie abwechselnd wachen wollten. Der eine legte sich hin und entschlief bald; der andere aber blieb wach und gab auf das Vieh acht. Nach einiger Zeit fiel sein Blick zufällig auf den schlafenden Gefährten und mit Staunen sah er, daß zum Munde desselben eine rotbraune Maus herauskam, nicht größer als ein Heimchen, und schnell davonlief. Von Neugier erfaßt, folgte ihr der Hirt, so schnell ihn seine Beine tragen konnten. Das wunderliche Tierchen lief über Felder und Wiesen bis zu einem Sumpfe, in dessen Mitte sich ein vom Blitz zerschmetterter Baumstamm befand. Die Maus kletterte an dem Stamm empor, kroch in eine Höhlung und verschwand. Nach einiger Zeit kam sie wieder zum Vorschein, lief auf demselben Wege zurück und kroch wieder in den Mund des Schläfers. Jetzt weckte diesen der andere Hirt und fragte: »Wovon hast du soeben geträumt?« –[69] »Ich? Nun, mir war, als liefe ich über Felder, Wiesen und Sümpfe bis zu einem Turm, in welchem viel Geld verborgen lag. Aber warum fragst du danach?« Der Gefährte erzählte ihm nun alles, was er gesehen.

Beide berieten sich eine Weile, versahen sich mit Äxten und Säcken und machten sich dann zu jenem Sumpfe auf den Weg. Nachdem sie den Baumstamm gespaltet hatten, fanden sie in der That eine Menge Geld und wurden reiche Leute. Der Sumpf aber trocknete bald darauf aus.

Quelle:
Andrejanoff, Victor von: Lettische Märchen. Nacherzählt von -, Leipzig: Reclam, [1896], S. 69-70.
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