6.

[217] Es fuhren, fuhren

Vom Dörflein Rusne

Zwei junge Fischerbürschlein.


Sie warfen, warfen

Die feinen Netzlein.

Wol in des Haffes Mitte.


Und fiengen, fiengen

Des Haffes Fischlein

Mit ihren feinen Netzlein.


Und in dem Netzlein

(Welch Wunder!) fiengen

Sie da zwei Meereskälblein.


›Ei Bruder, Bruder,

Du mein Geselle,

Was sinds für Wunderfischlein?‹


Und es ergrimmte

Der Gott der Wogen,

Der Nord begann zu blasen.


›Ei Bruder, Bruder,

Du mein Geselle,

Wirf aus den güldnen Anker!


Den Kahn mag rollen

Der Wogenbläser

Nun auf dem güldnen Anker.


Ei Bruder, Bruder,

Du mein Geselle,

Steig auf des Mastes Gipfel!


Vielleicht erblickst du

Der Nehrung Berglein,

Vielleicht die schlanken Fichtlein.‹


»Seh nicht die Nehrung,

Noch ihre Berge,

Noch auch die schlanken Fichten.


Ich sehe einzig

Nur dort mein Mädchen

Im Fichtenwalde wandelnd.


Schwarz ist ihr Kränzlein,

Gelb ihre Härlein,

Das Schürzlein grün gesticket.
[217]

Wenn ichs vermöchte,

Enzwei ich theilte

Das Schürzlein grün gesticket.


Die eine Hälfte

Legt ich ins Schreinlein,

Die andre würd ein Wimpel.«


›Ei Bruder, Bruder,

Du mein Geselle,

Wohin drehn wir das Kähnlein?


Ob hin zur Niedrung,

Ob nach Varusne,

Ob nach dem Dörflein Rusne?‹


»Nicht hin zur Niedrung,

Nicht nach Varusne,

Nur hin zum Dörflein Rusne.


Das Dörflein Rusne,

Das ist wie Memel,

Das Flüßlein fließt durchs Dorf hin.


Da reiten Reiter,

Man fährt zu Wagen

Und fährt da auch in Kähnen.


Da krähen Hänlein,

Da bellen Hündlein,

Da trällern Müllerinnen.


Im Dörflein Rusne,

Da wächst mein Blümlein,

Da findet Ruh mein Herzlein.«

Quelle:
Schleicher, August: Litauische Märchen, Sprichworte, Rätsel und Lieder. Weimar: Böhlau, 1857, S. 217-218.
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