[470] 995. Die alte Hexe in Geivels.

Nahe bei Bissen, in dem Wald genannt Geivels stand ehemals ein schönes Schloß. Der letzte Graf, der auf dem Schlosse wohnte, hatte nur eine Tochter, die einzige Erbin seiner Güter. Diese wurde von einem Liebhaber verschmäht, und nun schwor sie, sich an den Menschen zu rächen. Plötzlich kamen allerlei Plagen über das Dorf. Alle Kühe, die am Schlosse vorbeigingen, wurden krank und gaben keine Milch mehr. Bald sagten alle, das alte Fräulein sei die Ursache all dieses Unglücks.[470]

Einst führte ein armer Mann seine einzige Kuh an einem Strick am Schlosse vorbei. Als der Mann zu Hause ankam, war die Kuh krank; da rief er zornig: »So mögest du ewig in deinem Schlosse bleiben, und nur der jüngste Tag soll dich erlösen!« Schrecklich ging der Fluch des armen Mannes in Erfüllung. Noch während der Nacht zog sich ein schweres Gewitter über dem Dorfe zusammen. Schauerlich rollte der Donner, die Blitze zuckten, und am andern Morgen war das Schloß vom Erdboden verschwunden. Nur der Fels, worauf es stand, ragte noch traurig in die Luft.

Jedes Jahr in der Walpurgisnacht, wo die Hexen auf einem Bocke reiten, kommt auch die alte Hexe aus Geivels und macht dreimal die Runde um den Felsen.

Ich erinnere mich aus der Kinderzeit, daß wir Knaben oft um den Felsen gingen, wo die alte Hexe hausen soll, und folgendes Sprüchlein sagten:


Geivels dé âl

Sie sétzt am Stâl

Sie kuckt eraus

Sie kièrt hirt Haus

Sie jet dé klèng Jongen zum Bösch eraus.


Lehrer J. Scholler

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 470-471.
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