[102] 246. Das Sickermännchen.

In dem kleinen Dörfchen am Fuße des Stromberges lebte vor etwa fünfhundert Jahren eine Familie, Mutter, Sohn[102] und Großmutter. Der Sohn, ein Bursche von dreizehn Jahren, war ausgelassen und, anstatt in die Kirche zu gehen, ging er auf den Fischfang oder auf die Jagd. Einst – es war am Vorabend des Weihnachtsfestes – war er bis spät in die Nacht hinein auf dem Fischfang und kam hungrig nach Hause. Mit barschen Worten forderte er sein Nachtessen; die Mutter aber sagte, sie habe ihm nichts gekocht. Da fing er mit der Mutter zu hadern an. Die Großmutter, die im Dorfe als alte Hexe gefürchtet war, gebot dem Sohne, sofort zu schweigen, und als er es nicht tat, rief sie mit gräßlicher Stimme: »Verflucht sollst du sein und auf Erden nie mehr einen beständigen Aufenthalt haben!« Sobald die Alte dies gerufen, war der Sohn verschwunden.

Seit dieser Zeit irrte er in den Felsen bei Schengen, in dem sogenannten Schengerlach, umher, oder in dem nahegelegenen Wäldchen. Nachts in der Geisterstunde erschien er den Reisenden. Er war von kleiner Gestalt, mit feurigglühenden Augen, und trug eine blaue Hose, weiße Strümpfe, einen Hut mit drei aufgestülpten Krempen und Schnallenschuhe. Er hatte langherabhängende Haare und einen langen, weißen Bart. Er war ein guter, aber auch ein böser Geist. Guten Menschen war er hold; bösen, besonders Volltrinkern, spielte er manchen Schabernack, leitete sie auf Irrwege und besonders in die Mosel. Beleidigte ihn jemand und begegnete ihm grob, husch! faßte ihn der Unhold am Kragen und schleuderte ihn ins Wasser. Oft geschah es, daß er bei hohem Wasserstande, wenn die Mosel die Straße überflutete, harmlose Wanderer, ohne daß der Fuß naß wurde, über das Wasser brachte.

Einst kehrte Rümier aus Remerschen, nachdem er den Tag über zu Sierk ziemlich tief ins Glas geguckt, in der Geisterstunde nach Hause zurück. Als er Schengen durchschritten und an die Sickerbaach kam, dachte er: »Ich werde ihn nicht fürchten,« und schritt rüstig voran. Da auf einmal stand das Sickermännchen mit seinen funkelnden Augen vor ihm. Rümier erschrak dermaßen, daß er es nicht wagte, einen Schritt voranzugehen. Er fühlte sich von starkem Arme erfaßt, er folgte – da platsch! lag er in der Mosel. Als er das Ufer wieder erstiegen, war Sickermännchen verschwunden. Rümier eilte der Straße zu und schickte sich an, seinen Weg in Eile fortzusetzen. Aber da stand Sickermännchen plötzlich wieder vor ihm. Rümier erhob seinen Stock, um dem Geist einen Schlag zu versetzen, aber er schlug in die schwarze Nacht. Da begann er über Sickermännchen zu fluchen. Erzürnt packte dieses ihn und schleppte ihn in die Felsen hinauf. Lange war Rümier verschwunden; endlich kam er zu Hause an, ganz abgemagert und das Gesicht mit Wunden bedeckt.

So ging das Sickermännchen um bis zur ersten französischen Revolution; seither soll es nicht mehr erschienen sein. Die Sage aber hat sich erhalten bis auf den heutigen Tag. Geht jemand aus der Umgegend nach Sierk, so sagt man ihm: »Paß auf, daß dich das Sickermännchen nicht holt!«

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 102-103.
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