[281] 660. Die Jungfrau vom Johannisberg.

In uralter Zeit stand auf dem Johannisberg ein Götzenbild, das man Janny nannte. Später erhob sich dort eine feste Burg, welche den Burgen von Zolver und Hesperingen mit einem Licht (Lûcht) gute Nacht sagte. Von dieser Burg, die einst der Hauptschild der Stadt Luxemburg gegen Frankreich war, sind heute nur noch spärliche Trümmer vorhanden und auf dem waldigen Scheitel des Berges steht eine einsame Wallfahrtskirche, die dem hl. Johannes dem Täufer geweiht ist.

An diesen Berg knüpft sich die weit und breit bekannte Sage von einer verwünschten Jungfer, welche der letzte Abkömmling des Rittergeschlechtes vom Johannisberg gewesen sein soll. Es war Elisabeth von Hunolstein.[281] Wie der Volksmund erzählt, wurde sie an einen Herrn von Wendel aus Reims vermählt und ist daher auch ziemlich allgemein unter dem Namen Frau von Wendel bekannt. Sie verließ das Schloß ihrer Väter, um dem Gemahl nach Frankreich zu folgen. Ihre Ehe wurde mit einem Söhnchen gesegnet, war aber nicht glücklich. Die Edelfrau mußte von ihrem Manne flüchten und kehrte in ihre heimatliche Burg auf dem Johannisberg zurück, wo sie von nun an in strenger, fast klösterlicher Verborgenheit lebte. Kein einziger Bewohner der umliegenden Dörfer hatte während dieser Zeit die Ehre, mit Frau von Wendel in nähere Berührung zu treten. Das Volk lernte nichts von ihr kennen als nur ihre Leiden und Wohltaten, und sie stand in dessen Augen gleichsam als ein höheres, heiliges Wesen da. Von ihrem Gatten verlassen und verstoßen, war es nun ihr einziger Trost, die Not der Unglücklichen zu lindern und für das in der Nähe der Burg gelegene Heiligtum des hl. Johannes zu sorgen, das unter ihrer Pflege in höchster Blüte stand. Verborgen, wie sie stets gelebt hatte, starb sie auch und wurde oben auf dem Gipfel des Berges in der Gruft ihrer Ahnen begraben. Noch heute zeigt man ihr Grab an der hintern, zur Seite des Scherrtales gelegenen Außenecke der Bergkirche. Sie war bereits mehrere Tage begraben, als die Leute die Nachricht von ihrem Tode erst erfuhren. Das Volk war untröstlich und wollte es nicht glauben. Und weil niemand die schwergeprüfte Frau näher kannte und weil sie nach einem verborgenen Leben so plötzlich und geheimnisvoll verschwand, so verbreitete sich bald im Volksmund die Meinung, sie sei verwünscht worden. »Nein,« rief man aus, »sie ist nicht gestorben, sie lebt noch; sie ist in den Berg hinein verwünscht worden und wird einst wiederkommen!« Bald darauf wurde auch die Johannisburg von den Franzosen zerstört und nun hatte das gute Volk alles verloren, die Herrschaft und die Burg. Recht traurige Zeiten kamen und das Volk sehnte sich mit ganzer Seele nach den guten, alten Zeiten und nach den verlorenen Gütern zurück. Es tröstete sich mit der Hoffnung, das edle Fräulein werde einst wieder aus ihrem Banne erlöst werden und dann mit der Burg, mit allen ihren Schätzen und mit der ganzen alten Herrlichkeit des Berges zurückkehren und ihr Volk wieder glücklich machen ... So lebt die »Jungfer« noch heute im Schoße des Johannisberges. Der Ort ihres Aufenthaltes ist das alte, moosige Gemäuer, über welchem sich die Wallfahrtskirche erhebt. Dort sitzt sie, auf Erlösung wartend, bleich, traurig und mit gesenktem Haupt, auf einem mit Gold gefüllten Schrein. Nach einer anderen Überlieferung soll sie in Gestalt einer glühenden Schlange auf dem Schreine liegen und dessen Schlüssel, der golden ist, im Munde halten.

Alle sieben Jahre erscheint die Jungfer zur Zeit des Maihöhens, schneeweißgekleidet und mit gelöstem, verworrenem Haar, auf der Scherr, an dem sogenannten Schenkbur, und nachdem sie sich an der Quelle gewaschen[282] und ihre Locken aufgekämmt hat, sitzt sie wehklagend am Rand derselben und fleht alle vorübergehenden Jünglinge um Erlösung an. Diese Stelle gilt als die unheimlichste von allen, die sich in der Nähe des Johannisberges befinden.

Nach einem anderen Bericht soll diese Erscheinung auch an dem jetzt fast vertrockneten Grantebur umgehen, der an dem zur Budersberger Seite hingelegenen Granteberg entspringt und dort einst einen nicht unbedeutenden Teich bildete, den man Seetgen nannte. Zuweilen sitzt die Jungfer auch auf dem einen oder auf dem andern der dicken Steine, die vor der Tür der Wallfahrtskirche liegen, und ist damit beschäftigt, ihre Locken zu kämmen und aufzuflechten.

Die Jungfer zu erlösen, ist aber ein sehr schweres Werk, weil sie dabei die Gestalt verwandelt und Feuer und Flammen speit. Findet sich nämlich ein Erlöser ein, so erscheint sie wieder in der folgenden Mitternacht auf dem Gipfel des Berges über dem Grab der Edelfrau von Wendel und zwar in Gestalt einer feurigen Schlange, die zusammengerollt auf einem mit Gold gefüllten Schreine liegt und einen goldenen Schlüssel im Munde trägt. Besitzt nun jemand den Mut, diesen Schlüssel mit seinem eigenen Mund aus dem Munde der feuer- und flammenspeienden Schlange zu ziehen, so ist der Zauber gebrochen, die Jungfer erlöst und gehört ihrem Befreier als Braut an mit allen Schätzen, die in dem Schreine liegen.

Ein Jüngling aus Budersberg ging einst des Nachts am Seetgen vorüber und begegnete dort einer schönen Jungfrau. Er grüßte sie ehrfurchtsvoll. Da redete sie ihn an, entdeckte ihm, sie sei die verwünschte Jungfer vom Berge, und bat ihn flehend, er möge sie doch er lösen. »Wie soll ich denn das anfangen?« fragte der Jüngling. Und die Jungfrau erwiderte: »Ich erscheine um die nächste Mitternacht wieder oben auf dem Berg über dem Grab der Edelfrau von Wendel und zwar in Gestalt einer Schlange, die, mit einem goldenen Schlüssel im Mund, auf einem Schreine liegt. Wenn du mir dann beherzt mit deinem Munde den Schlüssel aus meinem Mund nimmst, so bin ich erlöst. Ich werde deine Braut und du wirst alle Schätze erben, die in dem gesperrten Schreine liegen.« Der Jüngling versprach es und nachdem er gebeichtet und das hl. Abendmahl empfangen hatte, begab er sich um Mitternacht auf den Johannisberg. Die Jungfrau erschien, wie sie es vorhergesagt hatte. Als aber der Jüngling sich bückte, um der Schlange den Schlüssel abzunehmen, fing diese auf einmal, sich zu vergrößern, und wurde zuletzt so groß wie ein Fuderfaß. Da sprang der Jüngling erschrocken auf und rief: »Ach, Herr Jesus! wäre ich wieder zu Hause!« Sogleich verwandelte sich die Schlange in eine Jungfrau, die, auf dem Schreine stehend mit durchdringender Stimme ausrief: »Muß ich denn nun wieder sieben Jahre warten, bis sich noch einmal die Gelegenheit zu meiner Erlösung bietet!«[283]

Ein ähnliches Abenteuer erlebte einst ein Mann aus Escher-Haus von Budersberg, der sich zur Nachtzeit auf den Johannisberg begeben hatte, um Holz zu sammeln. Als er bei der sechsten Stationskapelle angekommen war, welche fast oben auf dem Gipfel des Berges an einem Dreiweg steht und in welcher die schmerzhafte Gottesmutter thront, da gewahrte er ein schönes, schlankes, weißgekleidetes Fräulein, die neben der Kapelle mitten im Wege stand und ihre Haare mit einem silbernen Kamme kämmte. Höchst erschrocken wollte der Mann eiligst die Flucht ergreifen. Das Fräulein aber rief ihm zärtlich und wohlwollend nach: »Guter Mann, warum fliehst du? Erbarm dich und verweil doch, ich bin ja ein Mensch wie du!« Der Mann faßte wieder Mut, stand still und kehrte zurück. »Sei willkommen!« fuhr das Fräulein fort, »ich bin die Jungfer, welche in den Berg hinein verwünscht ist und schon lange auf Erlösung wartet. O, hab Mitleid mit mir und befreie mich!« – »Wie soll ich denn das anfangen?« fragte der Mann. – Die Junger antwortete: »Du sollst um die nächste Mitternacht zu dieser Kapelle kommen, wo ich dir dann wieder erscheinen werde. Mein Anblick wird gar häßlich und schrecklich sein, doch fürchte nicht, es wird dir, es darf dir kein Leid geschehen.« Und damit der Mann ja nicht von jäher Furcht befallen werde, suchte sie ihm vorher alle Umstände der Erscheinung, welche Angst und Schrecken einzuflößen geeignet waren, genau bis ins einzelne zu offenbaren. »Ich erscheine,« sprach sie, »von bösen Geistern umgeben, wie ein rollendes Fuderfaß und in Gestalt einer feurigen Schlange, welche einen goldenen Schlüssel im Munde hält. Diesen Schlüssel mußt du mir dann mit deinem Mund aus meinem Munde nehmen und ich bin erlöst. O, fürchte dich nicht, wie schrecklich es auch sein wird. Dein Lohn wird groß sein: erfüllst du treulich meinen Wunsch, wirst du der Erbe aller meiner Schätze sein. Leb wohl!« Darauf wandte sie sich, um zu gehen. Da schien ihr noch etwas einzufallen. »Auch werde ich ...« Sie wollte noch weiter reden, doch plötzlich mußte sie verstummen und verschwand in dem Dunkel der Nacht; ihre Geisterstunde war abgelaufen.

Am andern Morgen eilte der Mann schon in aller Frühe zum Ortspfarrer, erzählte ihm das Vorgefallene und fragte ihn, ob er das Abenteuer wagen solle oder nicht. »Nun, warum nicht?« erwiderte der Pfarrer. »Wenn Ihr es tut, verrichtet Ihr ein gutes Werk. Es ist gar keine Gefahr dabei, doch müßt Ihr vorher Euer Gewissen in Ordnung setzen und Euch mit Kraft von oben stärken.« Dies ermutigte den Mann und nachdem er gebeichtet und den Leib des Herrn empfangen hatte, begab er sich in der folgenden Nacht auf den Johannisberg zu der bezeichneten Kapelle der schmerzhaften Mutter Gottes und wartete der Dinge, die da kommen sollten.

Da rollte es um Mitternacht vom Gipfel des Berges mit grauenhaftem Getöse wie ein großes Faß heran, über welchem es wie Feuer und Flammen glänzte. Bald darauf sah der Mann mitten im Kreuzweg eine Truhe stehen,[284] welche die Größe eines Fuderfasses hatte und auf welcher zusammengerollt eine häßliche, glühende Schlange lag, die einen goldenen Schlüssel im Munde trug. Auch böse Geister standen ringsumher. Da bisher alles geschehen war, wie die Jungfrau es vorhergesagt hatte, trat der Mann beherzt heran, um der Schlange den Schlüssel zu entreißen. Doch sieh da! als er eben beginnen wollte, öffnete die Schlange ihren glühenden Mund und fing an, wütend zu züngeln und Feuer und Flammen auszuspeien. Das kam unerwartet. Auf diesen schrecklichen Umstand hatte die Jungfer den Mann wegen Mangels an Zeit nicht aufmerksam machen können. Von jähem Schrecken befallen, eilte der Mann in wildester Flucht den Berg hinunter, stürzte atemlos in seine Wohnung und kaum hatte er die Tür hastig hinter sich zugeworfen, als er ohnmächtig zusammenbrach. Doch seine Frau vernahm, wie es heftig an die Tür pochte und eine Weiberstimme mit herzzerreißendem Ton die Worte rief:


»O weh! o weh! o weh!

In sieben Jahren nit meh!

Dazu noch sink ich tiefer!

Wohl sieben Klafter tiefer!«1


Das Gespenst war dem Mann als Schlange bis an die Tür des Hauses gefolgt, wo es wieder die Gestalt einer Jungfrau annahm. Die Spuren der pochenden Hand waren noch am Morgen an der Tür sichtbar. Von der Zeit an weiß man, daß die Jungfer vom Johannisberg nur alle sieben Jahre erlöst werden kann.

So kam es, daß fast keiner von denen, die in der Nähe des Johannisberges geboren und auferzogen sind, ihn nachts zu besteigen wagt. Schon bei Sonnenuntergang verlassen die Leute, von einem unheimlichen Schauder ergriffen, den einsamen Hain, der seinen Scheitel bedeckt. Im Scherrtal reicht bei Nacht ein kleines Geraschel oder ein einfaches Hirtenfeuer hin, um die Mutigsten in die Flucht zu treiben.


J. Prott, Pfarrer

1

Nach andern:

O weh! nun lang nit meh!

In sieben Jahr nit meh!

O weh! noch immer tiefer!

An sieben Klafter tiefer!

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 281-285.
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