XXVII. Der goldene Löwe.

[76] Es war einmal ein König; der hatte eine Tochter, und diese wollte gern heiraten. Ihr Vater, der König, wollte sie aber nicht gern hergeben. Da sprach er zu ihr: »Ich werde dich in einem grossen Garten verstecken, in welchem – nach meiner Meinung – dich kaum jemand finden kann.« Und dann schickte ihr Vater, der König, Briefe herum: dass er eine Tochter zu verheiraten habe; wer ein Herr seinesgleichen sei und sie im Garten finden könne, dem wolle er sie zur Frau geben; »daselbst« (– so hiess es in jenen Briefen weiter –) »werden dich zwei Männer überall herumführen, während sie sich in ihrem Verstecke befindet. Wenn du sie nicht findst, lasse ich dir den Kopf abschneiden; wenn du sie aber findst, so lässt du mir den Kopf abschneiden und nimmst mein Szepter und meine Krone zu eigen.«

Da war nun eine Familie, zu der sieben junge Leute gehörten; diese alle begaben sich zu jenem Könige, das Mädchen zu finden: und der König liess ein Gerüst machen und die Köpfe jener Jünglinge auf ihm befestigen, um sie demjenigen zu zeigen, der wegen des Mädchens auszöge. Und viele andere zogen noch aus, – junge Leute, Herren und feine Persönlichkeiten, um das Mädchen zu finden; aber wenn sie die Köpfe auf dem Gerüste erblickten, gingen sie allemal wieder fort.

Da lebte ferner eine Familie, zu der neun junge Leute gehörten, und wo der Vater ein Witwer war. Der erste der Söhne brach auf; der König liess ihm den. Kopf abschneiden, wie seinen Vorgängern. Und dann, – einem wie dem andern (aus dieser Familie), – ihnen allen liess der König den Kopf abschneiden. Nun war[76] von ihnen nur noch der jüngste Sohn übrig; der sprach zu seinem Vater: »Ich will abreisen.« Sein Vater versetzte ihm: »Nein, mein Sohn! Ich wünsche nicht, dass du hinreisest; du wirst dahin gehen, wohin deine Brüder gelangt sind; sicherlich!« »Nein, Vater!« sprach der Sohn; »ich bin nicht von Sinnen!« Er beruhigte seinen Vater, und dieser sprach zu ihm: »Reise hin!« Der Jüngling nahm einen abfahrenden Dampfer und reiste ab; er nahm auch einen Mann mit, der jene Gegenden kannte, und berichtete ihm, wie seine Angelegenheit stand, – ganz genau, alles von Anfang bis Ende. Der andere erklärte: »Gut! Ich werde dich hinbringen und in deinem Dienste bleiben; du musst mir Essen und Trinken geben und etwas für meine Tasche, und ich werde dir alles zeigen.« »Gut!« versetzte der Jüngling.

Der Andre begann jetzt: »Ich will dich nach einem Orte schaffen, und zwar nach einem Walde, wo du einen antreffen wirst, den man den, ›Waldmenschen‹ nennt; er sieht wie ein Mensch, aber auch wie ein Tier aus.«

Die beiden brachen auf; der Jüngling fand den Waldmenschen; der fragte ihn, was er von ihm begehre. Der Jüngling begann: »Ich bin zu dir gekommen, damit du mir sagest, wie ich es anstellen muss, dass ich sie finde.« Jener versetzte: »Du wirst eine Summe Geld daranwenden müssen, – wenn du welches bei dir hast; dann wirst du sie finden!« »Sag' mir nur – ich habe schon Geld! – was ich zu tun habe!« Jener begann nun: »Geh' zu einem Juwelier, der sich auf Goldarbeit versteht; sag' ihm, er solle dir einen Löwen aus Gold anfertigen, in dessen Innerem du dich aufhalten kannst und in den du dich von innen einschliessen kannst!«

Der Jüngling brach auf, und ein Juwelier arbeitete ihm hernach einen Löwen aus, so wie ihn der Waldmensch dem Jünglinge beschrieben hatte, und stellte ihn ihm fertig; und der Jüngling gelangte auf einem Dampfer nach jenem Lande, in dem sich der König befand. Er schickte ihm einen Brief: es käme jemand, der seine Tochter zu heiraten wünsche. »Gut!« liess der König antworten; »ich wünsche dich zu sehen!« »Ich habe etwas Schönes mit, – einen Löwen aus Gold; wenn du willst, werde ich ihn dir senden, damit du ihn siehst.« »Gut!« liess der König antworten; »schick' ihn mir her!« Damit sandte der Jüngling den Löwen nach dem Palaste des Königs; er selbst – der Jüngling – befand sich aber im Inneren des Löwen.[77]

Die Königin sprach zum König am Abend, als sie den Löwen betrachteten und grossen Gefallen an ihm fanden: »Sollten wir ihn vielleicht unserer Tochter zeigen?« »Gut!« erwiderte der König seiner Gemahlin und schickte zwei Männer; die brachten den Löwen, in dessen Innerem sich der Jüngling befand, in den Garten, in dem das Mädchen verborgen war. Sie liessen ihn dort und gingen weg. Der Jüngling kroch aus dem Löwen heraus und sprach zum Mädchen: »Wünschst du, dass ich dein Bräutigam werde?« »Jawohl!« versetzte sie; »du hast mir schon gefallen!« Dann schloss sich der Jüngling wieder in den Löwen ein, und man nahm diesen wieder fort.

Dann, am nächsten Morgen, begab sich der Jüngling zum König; er sprach zu ihm: »Ich werde deine Tochter finden und sie heiraten.« Der König versetzte: »Sieh' alle jene abgeschnittenen Köpfe von Jünglingen!« Der junge Mensch sprach aber:. »Ich werde sie suchen; wenn ich sie finde, werde ich sie heiraten; wenn ich sie nicht auffinden kann, – dann lass mir meinen Kopf abschneiden, wie jenen früheren!« Man begab sich hin; der Jüngling begann zu suchen. Er wusste, wo sie war, denn er war ja schon im Löwen (an Ort und Stelle) gewesen. Als er sich nun daran gemacht hatte, sie zu suchen, und als ihm nur noch fünf Minuten blieben, bis dass die Zeit endete, nach deren Verlauf ihm der König den Kopf abschneiden musste, sprach er zu den Leuten: »Dorthin bin ich noch nicht gegangen!« »Gut!« erwiderte man ihm; »wir wollen dorthin gehen!« Jetzt sprach er: »Hebt doch jenen Baumstamm auf und jenen Stein, der unter ihm liegt!« Da sprach man zu ihm: »Sie gehört dir! Nun brauchst du nicht weiter zu suchen, denn du hast sie gefunden!«

Da stieg er zu ihr hinab, und beide küssten und umarmten einander. Der König begann zu weinen; denn jener hatte das Mädchen gefunden, und er musste ja nun seinen Kopf und sein Szepter nebst der Krone verlieren. Der Jüngling fragte: »Warum weinst du?« Jener versetzte dem Jünglinge: »Ja, nimm das Messer dort und schneide mir den Kopf ab!«. »Nein,« versetzte der Jüngling; »wenn ich sie nicht gefunden hätte, hätte ich freilich meinen Kopf, wie jeder andere, lassen müssen; aber dir schneide ich den Kopf nicht ab! Du kannst König bleiben, wie du bist; und wenn du eines natürlichen Todes stirbst, so verstattest du mir wohl, dass ich mir die Krone zu eigen nehme!«

Quelle:
Stumme, Hans: Maltesische Märchen. Gedichte und Rätsel in deutscher Übersetzung, Leipziger Semitistische Studien, Band 1, Heft 5, Leipzig: J.C. Hinrichsche Buchhandlung, 1904, S. 76-78.
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