XXXIV. Der siebenköpfige Drache.

[88] Es war einmal ein Knabe und ein Mädchen, die Geschwister waren. Sie besassen drei Schafe. Der Knabe pflegte diese auf die Weide zu treiben, während das Mädchen zu spinnen pflegte.

Einst weidete der Knabe auch die Schafe, und während er dies tat, kam ein Mann auf einem Pferde daher, der einen Hund bei sich hatte. Er sprach zum Knaben: »Wir wollen ein Tauschgeschäft machen: ich gebe dir diesen Hund für ein Schaf!« Der Junge antwortete: »Nein! Denn meine Schwester prügelt mich dann durch!« Der Reiter aber sprach zu ihm: »Lass uns doch den Tausch vornehmen!« Schliesslich machte der Junge den Tausch mit; der Mann gab ihm den Hund, und der Junge gab ihm das verlangte Schaf. Dann ritt der Mann fort.

Als der Knabe nach Hause gelangte, zankte ihn seine Schwester gleich aus, weil er das Schaf für den Hund hingegeben hatte.

Am anderen Tage zog der Junge mit den beiden übrigbleibenden Schafen und dem Hunde auf die Weide. Da kam derselbe Mann wieder, mit einem anderen Hunde, und redete ihn an: »Mein Sohn, wir wollen auch diesen Hund gegen ein Schaf umtauschen!« Der Junge versetzte: »Nein! Denn als ich gestern ein Schaf hingegeben hatte, hat meine Schwester mich ausgezankt.« Schliesslich machten sie aber doch den Tausch: der Mann gab den Hund her, und der Junge sein zweites Schaf.

Als er nach Hause kam, sprach seine Schwester zu ihm: »Wo sind die Schafe? Statt ihrer bringst du die Hunde?« Und damit prügelte sie ihn durch und jagte ihn hinaus.[88]

Am nächsten Tage begab sich der Knabe nach dem alten Platze, und es kam derselbe Mann daher. Schliesslich gab der Junge wieder ein Schaf gegen einen Hund hin. Nun hatte er also keine Schafe mehr, sondern bloss Hunde, und zwar drei. – Als er heimkam, schlug seine Schwester die Spindel auf seinem Kopfe entzwei und verabreichte ihm eine gehörige Tracht Prügel.

Der Junge zog nun mit den drei Hunden ab und gelangte in ein anderes Land; in diesem war allgemeine Trauer, denn die Königstochter jenes Landes sollte der Drache fressen. Der Junge begab sich schliesslich in einen Laden, um sich etwas zu essen zu holen. Er sprach zum Besitzer des Ladens: »Gib mir zu essen!« Jener antwortete: »Sprich nicht zu laut, weil hier allgemeine Trauer herrscht!« Dann gab ihm der Ladenbesitzer zu essen und zutrinken; der Knabe fragte ihn darauf: »Was hast du zu bekommen?« Jener erwiderte: »Nichts! Geh' nur wieder fort!« Nun verliess der Junge mit seinen drei Hunden den Laden und zog weiter.

Er bemerkte eine Frau, die kam des Weges daher und hatte Brot bei sich; zu ihr sprach er: »Maria, verkauf' mir zwei Brote, damit ich die Hunde füttern kann!« Sie versetzte sofort: »Sprich nicht zu laut, denn hier ist allgemeine Trauer!« Er fragte: »Trauer weswegen?« Die Frau erklärte: »Die Prinzessin dort in jenem Hause wird der Drache fressen!« Jetzt sprach der junge Mensch: »Gut denn! Geh' weiter!« Die Frau ging weiter, der junge Mensch aber begab sich nach jenem Hause, in dem sich die Prinzessin befand. Er fragte sie: »Meine Tochter, weshalb weinst du?« Sie versetzte: »Geh' fort, weil sonst der Drache hier uns beide auffrisst!« Der Knabe aber erklärte: »Habe keine Angst!«

Schliesslich nahte sich der Drache; zum Knaben sprach er: »Was machst du denn hier? Jetzt werde ich dich fressen!« Der Junge erwiderte: »Nur Mut! Wenn du schlau genug bist, so friss mich auf!« Dann rief der Knabe den kleinsten seiner Hunde zu sich und sprach zu ihm: »Geh' hin! Sieh', was der Drache von dir verlangt!« Der Hund machte sich daran und kämpfte mit dem Drachen. Nachdem sich die beiden eine geraume Zeit herumgebissen hatten, riss der Hund dem Drachen einen Kopf ab. Der Drache rief sofort: »Pause!« Der Hund rief gleichfalls: »Pause!« Sie machten eine Pause. Kurz darauf begannen sie ihren Kampf von neuem. Der Hund riss dem Drachen jetzt den zweiten Kopf ab. Jener rief wieder: »Pause!« Ebenso rief der Hund und fuhr[89] fort: »Schon einmal habe ich's dir gegeben!« Schliesslich riss der Hund dem Drachen alle Köpfe ab.

Die Prinzessin wurde vor Freude fast wahnsinnig; sie sprach zum Jünglinge: »Was soll ich dir jetzt als Geschenk dafür geben, dass du mir das Leben gerettet hast?« Der Jüngling versetzte: »Mädchen, ich begehre nichts ausser dem Mantel, den du anhast.« Da gab sie ihm den Mantel und verliess ihn. Der Knabe aber schnitt die Zungen der sieben Köpfe des Drachen aus und ging ebenfalls fort.

Es befand sich an jenem Orte aber ein Türke als Wache, damit er aufpasse, ob der Drache das Mädchen auffrässe. Dieser Türke ging auf das Mädchen los und sprach zu ihr: »Schwöre jetzt, hier auf der Stelle, dass du nicht sagen wirst, dass den Drachen jener Knabe getötet habe; sage einfach, ich hätte ihn getötet, – denn sonst töte ich dich!« Die Jungfrau erklärte sich damit einverstanden. Nun nahm der Türke die sieben Köpfe des Drachen und begab sich zum Könige, zu dem er sprach: »Majestät, ich habe den Drachen getötet!« Der König aber hatte verkündigen lassen, dass derjenige, der den Drachen töten würde, seine Tochter heiraten könne. So sollte nun der Türke die Prinzessin zur Frau bekommen.

Alsbald begann das dreitägige Hochzeitsfest. Nun hatte ja aber der Knabe den Drachen getötet. Er begab sich nach dem Königspalaste und sprach zum Könige: »Majestät, wer hat den Drachen getötet?« Der Herrscher versetzte: »Ihn hat der Türke getötet, der hier bei mir ist!« Der Knabe aber versicherte: »Ich habe den Drachen getötet! Denn ich habe die sieben Zungen des Drachen! Hol' die Köpfe des Tieres her und lass nachsehen, ob das wahr ist!« Da holte der König die sieben Köpfe herbei und öffnete ihnen die Mäuler, um zu sehen, ob Zungen in ihnen seien. Und er rief aus: »Wahrhaftig! Wo sind nun aber die sieben Zungen?« Da griff der Knabe mit seiner Hand in seine Brusttasche und sprach: »Da sind die sieben Zungen!« »Und der Mantel deiner Tochter,« fuhr er fort, »ist auch hier!« Und er übergab dem Könige diesen Mantel. – Darauf liess der König den Türken töten; der Knabe aber erhielt die Prinzessin zur Frau. – Und damit ist die Geschichte zu Ende.

Quelle:
Stumme, Hans: Maltesische Märchen. Gedichte und Rätsel in deutscher Übersetzung, Leipziger Semitistische Studien, Band 1, Heft 5, Leipzig: J.C. Hinrichsche Buchhandlung, 1904, S. 88-90.
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