[166] 112. Amalberga.

Flämisches Volkslied.

De Reiffenberg, Chron. de Ph. Mouskes.


Amalberga war eine edle Jungfrau und geboren aus königlichem Stamme. Noch kleines Mädchen baute sie im Garten ihres Vaters ein Kapellchen, worin sie Gott lobte und diente. Das mißfiel dem Bösen, und als sie einst wieder Blumen und Früchte zum Opfer in das Kapellchen trug, da lähmte er ihr einen Arm; aber die Muttergottes heilte denselben wieder auf das Gebet von Amalberga's Aeltern.

Der Ruf von ihrer Schönheit verbreitete sich bald und drang selbst an den Hof des Königes Pipinus. Dieser kam mit einem stattlichen Zuge zu dem Kloster,[166] wo die Jungfrau unter Leitung Landrada's lebte, und begehrte sie als Gemahlin für seinen Sohn, den nachmaligen Kaiser Karl den Großen. Amalberga aber wollte nichts von irdischer Liebe wissen und sprach, sie habe sich Jesu geweiht und werde ihm getreu bleiben ihr ganzes Leben lang. Als Karl diese Nachricht bekam, eilte er selber zu dem Kloster und erklärte ihr mit rührenden Worten seine große Liebe; doch widerstand ihm die Jungfrau kräftig und gab ihm dieselbe Antwort, welche sie schon seinem Vater gegeben. Darob erzürnte Karl höchlich und wollte sie mit Gewalt zu seinem Willen zwingen; doch Amalberga rief Marien um Hülfe an, und im selben Augenblicke sah Karl von ferne einen Bären kommen, welcher von Bienen verfolgt wurde und grimmig auf ihn zu stürzte. Er zog das Schwert, um den Bären zu tödten, und ließ Amalberga, welche in großer Eile flüchtete und sich sorglich vor ihm verbarg.

Weiteren Verfolgungen zu entgehen, zog sie am andern Tage mit ihrem Bruder nach Vilvorde in dem Lande Brabant. Da fand sie große Hungersnoth und Armuth. Sie wandte sich in frommem Gebete zu Gott, und alsbald sprang ein großer Fisch aus dem Wasser, den man tödtete und woran sich viele labten. Von Vilvorde wandte sie sich weiter und ging nach Materen wohnen.

Das erfuhr Karl aber bald, und er ritt ihr nach gen Materen hin. Als sie von seiner Ankunft hörte, schnitt sie all ihr schön Haar von ihrem Haupte und bedeckte es mit einem schwarzen Schleier. Karl erzürnte noch mehr, als er sie damit sah, und fragte: »Wer hat es gewagt, meine Braut dem Herrn zu weihen?« Da sprach Amalberga: »Das habe ich selber gethan.« Da faßte sie Karl so grimmig mit dem Arme, daß er ihr denselben entzwei brach, und wollte sie zwingen, ihm zu[167] Willen zu sein. Aber indem er mit ihr rang, sank der schwarze Schleier von ihrem Haupte und er sah mit Schrecken, wie all ihr langes Haar weggeschnitten war. Da ließ er sie und ging weg mit geändertem Herzen. Gott aber heilte ihren gebrochenen Arm wieder und befahl ihr, nach Temsche zu gehen und dort zu bleiben bis zu ihrem Tode.

Diesem Gebote kam die fromme Jungfrau alsbald nach, und sie lebte noch lange in Temsche und verrichtete große Wunderzeichen. Alles stand ihr zu Gebote, und die Thiere selbst gehorchten ihrem Willen. Die Kirche zu Temsche hat sie gestiftet und in ihr liegt sie begraben, und bis zum heutigen Tage wallfahrtet das Volk dahin und der Ackersmann bittet zu ihr, daß sein Korn und sein Weizen schön blühe und reife, und die Frauen flehen sie um Gedeihen für ihren Flachs und reine Weiße für ihren Lein.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 166-168.
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