88. Der Drache auf dem Belfried zu Gent.

[135] Prudenz van Duyse im Nederduitsch letterkundig Jaerboekje. 1838. S. 10.


Als die Genter und Brügger unter ihrem Grafen Balduin die Stadt Jerusalem belagerten, fingen die erstern eines Tages die Tochter des türkischen Königes der Stadt, welche Blanka hieß, und schlossen dieselbe in einen nahgelegenen Thurm ein. Eben aber hatten sie die Thüre des Gefängnisses geriegelt, als sich ein ungeheurer Drache in der Luft zeigte und vor dem Thurme sich niedersenkte, so daß keiner mehr wagte, demselben zu nahen.

Der König, betrübt über den Verlust seiner lieben Tochter, bot den Gentern schweres Lösegeld für dieselbe, aber diese schienen nicht geneigt, darauf einzugehen. Die Brügger hörten davon, und sandten alsbald einen Boten in die Stadt, um dem Könige zu melden, daß, wolle er ihnen die gebotene Summe geben, sie ihm seine Tochter wieder verschaffen würden. Der arme Vater zögerte keinen Augenblick, denn Blanka war sein einziges Kind, und gab dem Boten das Geld, womit dieser noch am selben Abende in dem Lager der Brügger anlangte. Durch Schlafmittel brachten sie den Drachen in Schlummer, zogen dann mit vereinter Kraft gegen ihn, und erlegten ihn nach kurzem Kampfe. Anstatt aber das Versprechen, welches sie dem Könige gegeben hatten, zu halten, bestiegen sie am folgenden Tag ihre Schiffe und segelten mit Blanka, dem Gelde und dem getödteten Ungeheuer aus dem heiligen Lande weg, gefolgt von den Racheschwüren der Genter und den Verwünschungen des also schmählich getäuschten Königes.[136]

Ihre Reise war glücklich, bald sahen sie den Boden ihres Vaterlandes wieder und stiegen jubelnd an Land. Den Ort aber, wo sie ihre Schiffe anlegten, nannten sie zur Ehre Blankas Blankenburg. Den Drachen hingen sie als Siegeszeichen in der Hauptkirche auf.

In den Zeiten der Bilderstürmerei wurde derselbe verbrannt, aber die Brügger hatten ihn zu lieb gewonnen, als daß sie sein Andenken hätten vergessen können. Sie ließen also sein Bild durch einen kunstfertigen Meister in Erz gießen und setzten dieses auf die Spitze des Thurmes der Donatiuskirche. Die Genter sahen dieß nur mit dem größten Unmuthe. Obgleich schon Jahrhunderte verflossen waren, seit ihre Nachbarn ihnen den hinterlistigen Streich gespielt hatten, glühte doch in ihrem Herzen noch die alte Rachelust, und es bedurfte nur eines Anlasses, um dieselbe in volle Flammen ausbrechen zu lassen. Dieser Anlaß fand sich im sechzehnten Jahrhundert, und Gent rückte mit gesammter Macht, den muthigen Arteveld an der Spitze, auf Brügge los. Je länger die Belagerung dauerte, desto mehr wuchs die Hungersnoth in der Stadt. Als man sah, daß längeres Halten nicht möglich sei, vereinten sich die Bürger eines Tages, und zogen in Prozession zu allen Kirchen, um die Hülfe des heiligen Georg, des Drachensiegers, anzuflehen. Diese Gelegenheit benutzten die Genter, sie erstürmten das nur schwach besetzte Damthor, erkletterten die von Vertheidigern leeren Wälle und sahen sich nach einem blutigen Kampfe im Besitze der Stadt. Der erste Blick der Sieger stieg zur Kirche des heiligen Donatius. Gerüste hoben sich auf Gerüsten, Balken auf Balken, der Drache stieg nieder und wurde im Triumphe gen Gent geführt, wo ihn die erfreuten Bürger mit Jubel empfingen und zum Pallaste des Bischofes führten. Dieser ließ alsogleich verkünden, daß der Drache am nächsten[137] Sonntage feierlich getauft werden sollte, und also geschah es auch, und nach der Taufe ward er nach allgemeinem Beschlusse auf die Spitze des Belfried gesetzt, wo er bis zu unsern Tagen noch steht.

Bei feierlichen Gelegenheiten beleuchtet man ihn gegen Abend und läßt ihn ganze Feuerströme aus dem weit offenen Rachen senden, alles zum größten Verdrusse der Brügger, die immer noch mit scheelen Blicken nach ihrer geliebten Beute schauen und den Gentern es immer noch nicht verzeihen können, daß der Drache ihr Eigenthum ist.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 135-138.
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