[384] 306. Das Veen bei Zout-Leeuw.

Nolet-de-Brauwere im Nederd. letterk. Jaarboekje. 1840. S. 81.


Das Veen ist ein breites und tiefes Wasser, aber das war es nicht immer; es erhob sich dort vor Zeiten[384] eine gar schöne Stadt mit festen Thürmen und Bollwerken und mit einer bedeutenden Zahl von Einwohnern. Diese letztern aber waren nicht nach dem Herzen Gottes, sondern böse Schlemmer und arge Prasser, die in ihrem Uebermuthe Himmel und Erde vergaßen und nichts kannten, als die Stillung ihrer Gelüste. Im Winter, wenn Schnee und Eis die Straßen fußhoch deckten und sie drinnen beim warmen Heerde schwelgten, dann gaben sie dem bittenden Armen mit seinem hungerbleichen, abgezehrten Gesichte nicht einmal ein Stücklein trockenen Brotes, nicht ein Splitterchen Holz, daß er seine kaltstarren Glieder hätte wärmen können; im Gegentheil, sie stießen ihn mit Schimpfen und Flüchen aus der Thüre und spotteten gar noch der Thräne, die über des so schmählich Abgewiesenen furchige Wangen zitterte, in seinem Barte vereiste.

Deß war aber der liebe Gott am Ende müde, er griff nach seinem Wunderstabe und rief den Engel Gabriel zu sich, damit er diesen in die unfromme Stadt sende.

Es war gerade Christnacht; die Kälte hatte den höchsten Grad erreicht; dichter Schnee fiel mit Hagel untermischt, um auf dem Boden alsbald eine Eiskruste zu bilden; die Straßen waren einsam und nur das von allen Fenstern, die im hellsten Glanze leuchteten, herrauschende Gejubel und Gelärme durchhallte die sonst tiefstille Nacht. Ein Bettler wagte noch, trotz des Unwetters, von Thüre zu Thüre zu schleichen und einen Bissen sich zu erbetteln. Nie hatte man eine Jammergestalt gleich ihm gesehen, aber doch vermochte er kein Herz in der ganzen Stadt zu rühren; nur die Thüre eines draußen wohnenden armen Mannes öffnete sich ihm, nur dieser theilte eine trockene Brotkruste mit ihm. Da aber warf der Bettler plötzlich die Lumpenhülle von sich, und er stand da als der Engel Gottes, der er war, und[385] mit mächtiger Stimme rief er gegen die sündige Stadt hin: »Als Unkraut sollt ihr weggefegt werden von der Erde und des Herrn Fluch soll euch treffen.«

Und siehe, in demselben Augenblicke erscholl ein so furchtbarer Schlag, daß die Erde bebte, und aus den Wolken schoß strömender Regen. Welle an Welle wälzte sich an der Hütte vorbei und auf die Stadt zu, Blitze durchkreuzten den Himmel ohne Ende; der Donner rollte von allen Seiten nach dem Veen hin.

Erst am andern Morgen, als das Unwetter sich gelegt hatte und die Sonne wieder heiter niederblickte, wagte der arme Mann sich vor die Thüre seines Häuschens. Zu seinem Schrecken aber fand er von der Stadt keine Spur mehr, und an ihrer Stelle nur eine breite Wasserfläche.

Seitdem ist es am Christabende dort nicht geheuer; aus der Tiefe des Sees schallen wunderbare Stimmen, und mitunter tönt ein grausenerregendes Geheul daraus hervor; dazu läuten die Glocken der Kirchen ohne Unterlaß, aber in so erschütternd wehmüthigem Tone, daß noch keiner stark und kühn genug war, um zuzuschauen und abzuwarten, was da drunten alsdann vorgeht.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 384-386.
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