[452] 379. Der lange Wapper zu Antwerpen.

Aus dem Munde alter Leute schriftlich mitgetheilt von Herrn Stadtbibliothekar Mertens in Antwerpen.


Mein Vater seliger, wie auch meine alte Tante haben mir in meiner Jugend tausend Male von dem langen Wapper gesprochen und von den mannichfachen Streichen, welche dieß wunderliche Gespenst den Bürgern der guten Stadt Antwerpen spielte.

Bösartig waren diese Streiche nicht immer; sie bestanden meist in Narretheien und Spötteleien, aber da lag immer doch etwas zum Grunde, was so ganz richtig[452] nicht war und worüber man wohl schlimme Gedanken bekommen mochte. Das ist einmal ausgemachte Sache, er führte manchen mit sich weg, und wohin, das weiß unser lieber Herrgott. Wer er eigentlich war, das kann ich euch nicht sagen, und kein Mensch wußte etwas davon. Es schien, als fürchtete man, ihm etwas Uebles nachzusagen, und wer konnte auch wissen, ob er nicht horchte? So lang er in der Stadt hauste, hörte man auch seinen Namen kaum nennen; nur erst, als man ihn nicht mehr spürte, wagte man, einander seine Gedanken über ihn mitzutheilen. Meine Schulmeisterin, die eine Quisel war, sprach uns oft darüber und sagte uns, es wäre ein Geist aus der andern Welt; aber es gibt andere Leute genug, die glauben, daß es ein oder der andere reiche Mann aus der Stadt war, der mit dem Teufel einen Bund geschlossen hatte. Später hörte ich, daß viele adelige und hohe Bürgershäuser auch in Verbindung mit ihm ständen und von seiner Familie wären, und somit wohl Ursache hatten, die Wahrheit geheim zu halten.

In alten Zeiten lag die Wappersrui, die nun überwölbt ist, noch offen, und die Stelle, welche heutzutage Wappersbrücke heißet, war noch eine wahrhafte und wirkliche Brücke. Da nun war es, wo der lange Wapper sich meist aufhielt, und davon leiten auch die beiden Namen ihren Ursprung her. Gewöhnlich kam er unter der Brücke her zuerst zum Vorschein, schritt mit seinen langen Beinen aus dem Wasser auf den Wall, schrumpfte dort husch ganz klein zusammen und erschien dann in der Gestalt eines Straßenjungen. Dann mischte er sich unter die andern Jungen, und niemand erkannte ihn jemals, denn stets sah er aus wie einer von ihnen, der gerade nicht da war. In den Stunden zwischen Licht und Dunkel geschah dieß zumeist, denn dann kamen[453] die Jungen aus der Schule oder vom Essen und spielten. Eins von ihren Lieblingsspielen aber war Hütchen schupp; da gab nämlich einer von ihnen, auf den zufällig das Loos fiel, seinen Hut her, und den schuppten die andern mit den Füßen so lange hin und wieder, bis der, dem er gehörte, ihn glücklicherweise einholen und packen konnte. Das ging nun alles gut, bis die Reihe an den langen Wapper kam, daß der auch seinen Hut geben mußte. Aber dann, wehe dem, der dem Hut den ersten Schupp versetzte! Er stieß seinen Holleblock (Holzschuh) in Stücke und die Zehen sich entzwei, denn der vermeinte Hut war ein schwerer eiserner Topf. Und dabei mußte er noch das laute Hahaha! des spottlustigen Geistes hören, den nun alle suchten und keiner fand.

Wenn die Jungen mit dem Reifen spielten, machte er es auf ähnliche Weise. Jeder wetteiferte, um seinen Reifen denen der andern vorzuschnellen, alle liefen, was sie laufen konnten; der lange Wapper aber überschritt sie alle mit seinen langen Beinen, machte sich vor dem Haufen plötzlich wieder klein und rannte dann vor ihnen her, bis der eine oder andere matt auf die Erde sank. Gaben sie dann das Spiel auf, dann sprang er plötzlich in die Rui, verschwand unter dem dunkeln Bogen der Brücke und lachte sein Hahaha! daß es weithin wiederhallte.

Nicht besser ging es auf dem Stadtwalle, wo das kleine Völkchen meist mit Knickern spielte. Er wann ihnen alles bis zum letzten Steine ab; kein einziger, der auch nur einen übergehalten hätte. Darüber waren die Jungen dann bös und fluchten und schwuren, während der lange Wapper unter dem gewöhnlichen Hahaha! bei der Brücke verschwand.

Aber nicht allein da trieb er seine Streiche, sondern auch in der Zuckerrui und Umgegend. Da stand unter[454] andern ehedem ein Bildniß des heiligen Johannes von Nepomuk. Das just ist dahin gestellt worden, um dem Treiben des langen Wapper ein Ende zu machen. Um derselben Ursache willen sieht man noch heutzutage das Bild des heiligen Joseph an der Wapperrui; seit es da steht, mußte der lange Wapper die Flucht nehmen.

War es Abend geworden und konnte er keine Jungen mehr in ihren Spielen ärgern und quälen, dann gab es keine Straße in der ganzen Stadt, die von ihm durchaus verschont blieb. Keine alte Frau, kein jung Mädchen durfte sich zu später Stunde noch auf der Straße blicken lassen, ohne daß sie seine List erprobt hätte. Um das Fleischhaus herum hat er sonderlich schändliches Zeug getrieben; was das aber alles war, deß kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur ein paar Vorfälle sind mir noch frisch im Gedächtniß, und zwar darum, weil sie mit einer mir bekannten Person sich ereigneten. Die kam nämlich eines Abends gegen elf Uhr von ihrem Werk und wollte nach Hause gehen, als sie das Geschrei eines kleines Kindleins vom Fleischhaus her vernahm. Sie ging darauf zu und fand auf einer steinernen Bank daselbst ein arm, klein Würmlein, welches kaum geboren schien; übrigens war es in weiße Windeln sauber eingewickelt. Die Annemie (so hieß sie) nahm das Wichtchen auf und drückte es an ihr Herz, denn sie meinte nicht anders, als daß es ein verlassen Kind wäre, welches von seinen Eltern ausgesetzt worden wäre, um als Findling von einem andern aufgenommen und ernährt zu werden. Weil das Kind aber noch immer schrie und sich gar nicht zufrieden geben wollte, so beschloß die gute Frau, ihm einmal die Brust zu geben, denn sie hatte auch einen Säugling zu Hause. Als das geschehen war, wollte sie weiter, aber mit jedem Schritte, den sie that, wurde das Kindchen größer und größer und schwerer[455] und schwerer; und als sie nur noch ein paar Schritte vom Hause weg war, da konnte sie die Last nicht mehr halten und war gezwungen, den wunderlichen Säugling los zu lassen: aber er fiel nicht auf die Erde, sondern glitt unter ihrem Arme weg, und zur selben Zeit scholl es Hahahaha! hinter ihr. Sie will sich umdrehen; da redet jemand sie laut an: »Dank euch, dank euch, liebe Frau, für eure leckern Brüstchen! Hab gar genüglich meinen Durst dran gelöscht.« Darob verwundert, will sie zuschauen, wer das ist, und es war der lange Wapper, der, das Haupt weit über die Häuser herausstreckend, neben ihr stand.

Seitdem war sie gar vorsichtig, und wenn ihr bei spätem Nachhausekommen auch nur das mindeste Verdächtige aufstieß, dann schlug sie schnell ein Kreuz, oder rief die Muttergottes oder einen von den Heiligen oder den lieben Engeln um Hülfe an, und dann ging es natürlicherweise ganz gut. Auf diese Weise blieb sie eine geraume Zeit von aller Störung frei. Einmal aber kam sie auch wieder gegen Mitternacht nach Hause, da sah sie plötzlich ein weißes Schnupftuch oder Serviette – sie wußte nicht recht, was es war – vor sich auf der Erde liegen. Sie nahm das Ding auf, ohne an etwas Schlimmes zu denken, und steckte es unter den Arm, vermeinend, einen guten Fund gethan zu haben. Aber, ach Gott! das Tuch dehnte sich immer mehr aus, schlüpfte husch ihr fort und wuchs so lang und so hoch, bis sie sah, daß es der lange Wapper wieder war, der nun gemächlich über die Häuser wegschritt und sie dabei derb auslachte. Dergleichen könnte ich euch, Gott weiß wie viel, erzählen, denn jegliche Nacht kam so ein Streich von ihm vor, und das nicht an Einem Orte, sondern an vielen zugleich, so daß es offenbar war, daß er sich vervielfachen könne.[456]

Und wenn ich nun erst von all den verschiedenen Gestalten sprechen sollte, unter denen er erschien! Bald war er eine Katze, bald ein Hund; bald ein Geistlicher, bald ein reichgekleideter Herr, der die Kinder mit Leckereien an und mit sich lockte, wohin? das weiß der liebe Gott. Oft stand er in ungeheurer Größe an den hohen Kirchenfenstern und störte späte Beter mit Fluchen und Lästern; ein ander Mal klopfte er an die Fenster des zweiten und gar des dritten Stockes der Häuser und jagte den guten Bürgern den gewaltigsten Schrecken ein. Sah er Spitzenklöpplerinnen oder andere Frauen und Männer noch spät in der Nacht beschäftigt, dann schrie er ihnen meist zu: »Die Nacht ist für mich, der Tag für euch!« In reichen Häusern erschien er unter der Gestalt eines Bekannten und setzte sich mit zur Tafel; und wenn dann alles in Frieden und Ruhe sich freute, dann verschwand er plötzlich und lachte seine Wirthe aus. Auch mischte er sich oft unter die Kartenspieler, verlor viel Geld und weigerte sich zu bezahlen. Entspann sich dann ein Streit, dann forderte er die Mitspieler auf, mit ihm die Sache vor der Thüre auszumachen, und dabei blieb meistens einer todt.

Was meinen Vater seligen besonders glauben machte, daß es dem langen Wapper um Seelen zu thun war, das war der folgende Vorfall. Ein Mann, dessen Frau in Kindesnöthen lag, ging noch spät aus, um eine Hebamme zu holen. Aber er stieß auf dem Wege auf so viel Hindernisse, daß es nicht zu sagen ist. Inzwischen lag das arme Weib in ihren Schmerzen allein, und sicherlich wäre das Kind ohne Taufe gestorben, hätte der Mann – und das mein leiblicher Ohm – nicht zeitlich genug noch sich durch Gebet geholfen.

Die beste Hülfe aber verlieh einem von dem langen Wapper Geängstigten ein Liebfrauenbild, denn da konnte[457] er nie vorbei. Man hat auch seit der Zeit begonnen, solche Bilder an allen Straßenecken aufzustellen, und das ist eine Hauptursache, warum er Antwerpen verlassen hat; denn jetzt spukt er am Ufer der See herum.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 452-458.
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